Ein Land, das Himmel heißt
erst, dass ihre Kehle vertrocknet war, doch mit einem Griff in ihre Rocktasche stellte sie fest, dass sie ihre kleine Geldbörse wohl im Meer verloren hatte. »Ich warte noch auf jemanden«, sagte sie und überprüfte wieder die Wege und die Tür. Sie beugte sich vor, um besser sehen zu können. Die beiden weiß gekleideten Muslims hatten das Restaurant schon wieder verlassen und verschwanden eben um die nächste Wegbiegung. Nils aber war noch nicht zu sehen. Vorsichtshalber nahm sie jeden Tisch im Restaurant in Augenschein, sollte er doch von ihr unbemerkt hineingegangen sein. Am letzten Tisch saßen fünf Männer, zwei davon mit dem Rücken zu ihr, aber keiner ähnelte Nils auch nur im Entferntesten. Nur einer hatte blonde Haare, war aber wesentlich schmächtiger als er. Außerdem trug er wie die anderen vier Männer auffallend viel Goldschmuck, Halskette, breites Panzerarmband, brillantfunkelnde Uhr. Nicht sein Stil. Überhaupt nicht. Ihre Augen wanderten weiter.
Nichts. Sie hatte ihn nicht verpasst. Auf dem Bord unterhalb der Kasse fiel ihr die Aktentasche der beiden Muslims ins Auge. Offenbar hatten sie diese vergessen. Sie betrachtete die Tasche. Merkwürdig war nur, dass die Männer sie einfach so stehen gelassen hatten. Man merkt doch, wenn das Gewicht in der Hand fehlt, und diese schien nicht leicht zu sein, denn sie war so vollgestopft, dass sie sich bauchig vorbeulte. Den spontanen Gedanken, die Kellnerin darauf aufmerksam zu machen, verwarf sie wieder. Die Männer würden es wohl bald selbst merken, es war nicht ihre Sache. Sie lehnte sich zurück, beobachtete eine junge Familie mit zwei kleinen Kindern, die dem Restaurant zustrebte. Die Kinder, zwei kleine Mädchen mit feinen, leuchtend hellblonden Haaren, trugen bunte Hemdchen und winzige gerüschte Bikinihöschen. Ihre Haut war goldbraun, die Augen waren so blau, als hätte der Himmel seine Farbe von ihnen bekommen. Beide hüpften ihren Eltern voraus, unaufhörlich erzählend, mit Stimmchen, als würden Schwalben zwitschern. Die Eltern hielten sich an den Händen, schauten ihren kleinen Mädchen zu, die zum Tisch direkt am Fenster sausten und behände auf die Stühle kletterten. Alle im Restaurant sahen die Kleinen an, und auf allen Gesichtern lag dieses Lächeln, das den Tag noch heller machte.
Der Anblick des Vaters, der ihr den Rücken zukehrte, groß, breitschultrig, kurze, helle Haare, versetzte ihr einen scharfen Stich, genau eine Handbreit unter dem Nabel. Für ein paar unkontrollierte Sekunden überfiel sie eine solche Sehnsucht nach dem Pfirsichgeruch der zarten Kinderhaut, danach, ihre Ärmchen um ihren Hals zu spüren, ein Stimmchen zu hören, das sie Mama nannte, dass sie es kaum noch aushielt. Es kostete sie alle Kraft, diese Gefühle beiseite zu schieben. Noch konnte sie sich nicht einmal erlauben zu träumen. Dafür war es zu früh. Viel zu früh.
»Wie viel Uhr ist es?«, fragte sie die Kellnerin, die einem anderen Gast eben die Rechnung brachte. Ihre eigene war stehen geblieben, Wasserperlen hatten sich unter dem Glas gesammelt.
Die Kellnerin sagte es ihr.
Unwillkürlich stöhnte sie auf. Gerade sieben Minuten waren vergangen. Noch dreiundzwanzig Minuten. Nur ein Augenblick in der Ewigkeit, aber länger, als sie im Voraus zu denken vermochte. Sie malte Figuren mit dem Fingernagel auf das blaue Tischtuch, lauter kleine Herzen, überlegte, ob sie es wagen könnte, zur Toilette zu gehen, und entschied sich dagegen. Sie rieb ihre nackten Zehen vom Sand frei und erinnerte sich, dass sie Sandalen getragen hatte, aber nicht, wo und wie sie abhanden gekommen waren. Vermutlich auch im Wasser, dachte sie, versuchte die Stunde, unmittelbar bevor sie sich im Meer wiedergefunden hatte, zu rekonstruieren, um die Zeit schneller vergehen zu lassen.
An das Kostüm der Hostess von der Autovermietung erinnerte sie sich noch. Es war blau mit Goldknöpfen gewesen, viel zu eng und unter den Armen von Schweiß verfärbt. Aber danach riss ihre Erinnerung ab, setzte erst wieder ein, als sie nach Luft ringend in den Wellen trieb. Nun saß sie hier, ihr Leben stand auf Messers Schneide, und sie konnte nichts tun als warten. Ihre Gedanken flogen zurück, suchten den Punkt, an dem der dunkle Weg begann, der sie hierher geführt hatte. Schritt für Schritt ging sie zurück, bis sie an jenem schönen Novembertag 1989 den Zeitpunkt fand.
Es gab keine Abzweigung, der Weg führte geradewegs vom Licht in die Schwärze. Sie hatte nie die Freiheit gehabt, die
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