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Ein Leben in Krieg und Frieden (German Edition)

Ein Leben in Krieg und Frieden (German Edition)

Titel: Ein Leben in Krieg und Frieden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kofi Annan
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palästinensischen Städten abzuziehen. Das Nahostquartett traf sich am 8. April 2002 in Madrid. Es war so etwas wie ein Test für den noch jungen Viererprozess, und meine Sorge war, dass wir möglicherweise keinen gemeinsamen Nenner finden würden. Aber die Beauftragten arbeiteten vor der Sitzung, in der die gemeinsame Erklärung beschlossen werden sollte, die Nacht durch. Die Erklärung sandte sowohl an die Israelis als auch an die Palästinenser klare, nachdrückliche Signale aus, und Powell konnte, bevor er in die Region reiste, unserer vollen Unterstützung gewiss sein. Der Sicherheitsrat schloss sich dieser Erklärung an.
    Zu meiner Erleichterung und Genugtuung zog die Weltgemeinschaft endlich an einem Strang, und es bestand die Aussicht auf ernsthafte politische Gespräche. Allerdings beschäftigte mich noch eine näherliegende Sorge: Jenin.
    Jenin
    Aus Jenin, einer Stadt im Nordwesten der Westbank, trafen beunruhigende Nachrichten ein. Angeblich wurden dort Zivilisten in großer Zahl getötet. Laut einem palästinensischen Unterhändler waren bereits Hunderte Menschen massakriert worden. Diese Behauptung stellte sich später zwar als falsch heraus, aber unabhängige Quellen bestätigten, dass die Israelis Zivilisten den Zugang zu Hilfsgütern sowie eine medizinische Versorgung verweigert hatten und dass das Flüchtlingslager größtenteils zerstört worden war. Unterdessen pries Arafat den ruhmreichen Widerstand der Einwohner von »Jeningrad«.
    Ich wollte mich nicht auf Gerüchte verlassen und niemanden verurteilen, bevor ich nicht die Fakten kannte. Aber eine abwartende Haltung wollte ich auch nicht einnehmen. Als Israel meine Anfrage, ob die UNO umgehend eine Untersuchungskommission entsenden könne, ablehnend beschied, wies ich meinen Beauftragten Rød-Larsen an, zusammen mit dem UNRWA -Generalbevollmächtigten Peter Hansen und Medienvertretern nach Jenin zu fahren. Rød-Larsen reagierte zögernd: »Jenin ist abgesperrt. Es würde mich für immer aus dem politischen Rennen werfen, auch wenn ich verstehe, weshalb Sie es für richtig halten.« – »Ja, ich weiß, dass es riskant ist«, erwiderte ich. »Aber wir müssen eine Wahl treffen, und das hat seinen Preis. Es tut mir leid, Terje, dass Sie vielleicht dafür bezahlen müssen. Aber ich werde Ihnen Rückendeckung geben.« Ich wollte, dass er Licht in Dinge brachte, die bisher im Dunkeln lagen.
    Also machte er sich auf den Weg. Er unterließ Spekulationen darüber, ob ein »Massaker« stattgefunden hatte, und benutzte dieses Wort kein einziges Mal. Aber er beschrieb, was er gesehen hatte, gegenüber der Presse als »über alle Maßen grauenerregend«. Das Lager sei »vollkommen zerstört. Es sieht aus wie nach einem Erdbeben. Ich habe beobachtet, wie zwei Brüder ihren Vater aus den Ruinen zogen. Der Todesgeruch war furchtbar. Wir haben gesehen, wie ein völlig verkohlter zwölfjähriger Junge ausgegraben wurde.«
    Am selben Tag forderte ich den Sicherheitsrat auf, die Aufstellung einer multinationalen Truppe für das Palästinensergebiet in Erwägung zu ziehen, um beiden Seiten Sicherheit und Schutz zu gewähren. Aber Israel lehnte den Vorschlag ab. Ich bin indes weiterhin überzeugt, dass eine solche Friedenstruppe eines Tages Teil der Friedens- und Sicherheitslösung des Konflikts sein wird.
    Außenminister Schimon Peres und Verteidigungsminister Benjamin Ben-Eliezer sprachen sich jetzt für die Entsendung einer Untersuchungskommission aus, und der Sicherheitsrat unterstützte dieses Vorhaben durch die Resolution 1405. Ich wandte mich an Martti Ahtisaari, den untadeligen Finnen, der etwas besaß, was die Finnen »sisu« nennen, ein unübersetzbares Wort, das Mumm und Standhaftigkeit zugleich meint. Als deutlich wurde, dass er ein Team leiten würde, dem humanitäre und Menschenrechtsexperten sowie Militär- und Polizeifachleute angehören sollten, bekamen die Israelis kalte Füße. Schließlich war abzusehen, dass sie das Team nicht einreisen lassen würden, und ich musste es wieder auflösen.
    Im israelisch-palästinensischen Konflikt treten solche Episoden mit einer gewissen Regelmäßigkeit auf, beispielsweise im Zusammenhang mit dem Goldstone-Bericht über das Verhalten Israels und der Hamas während des Gazakonflikts von 2008/09, der nach meinem Ausscheiden aus dem Amt des UN -Generalsekretärs ausbrach. Es gab allerdings einen wichtigen Unterschied: Richard Goldstone arbeitete nicht im Auftrag des Generalsekretärs, sondern für den

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