Ein letzter Besuch: Begegnungen mit der Weltmacht China (German Edition)
Stangen hängende Sänfte, die von vier Trägern, jeweils zwei vorn und hinten, getragen wird, während der Insasse durch Vorhänge völlig verdeckt ist. Er sieht die Welt, aber die Welt kann ihn nicht sehen. Das war ein fataler Mangel dieses Systems.
SCHMIDT Aber es hat Hunderte von Jahren funktioniert.
LEE Weil das Volk in Gleichgültigkeit und Furcht gehalten wurde. Heute ist das nicht mehr möglich.
SCHMIDT Ich möchte Sie nach Li-Tai-Po fragen. Wann lebte er?
LEE Wer?
SCHMIDT Li-Tai-Po, ein chinesischer Dichter.
LEE Oh, in China kennt man ihn als Li Bai. Das ist mehr als tausend Jahre her.
SCHMIDT Bei deutschen Dichtern steht er übrigens immer noch in hohem Ansehen. Die Deutschen wissen nicht viel von Konfuzius und Menzius, aber sie lieben Laotse und auch Li-Tai-Po.
LEE Gibt es deutsche Sinologen, die die chinesischen Originale lesen?
SCHMIDT Ja.
LEE Erstaunlich! Wie kommen sie dazu, ihr Leben als Fachleute für chinesische Literatur verbringen zu wollen?
SCHMIDT Aus Wissenschafts- und Forschungsleidenschaft – und weil sie ihren Lebensunterhalt als Angehörige einer Universität verdienen können.
LEE Oh.
MATTHIAS NASS Das scheint Sie zu verwundern. Gibt es denn keine asiatischen Gelehrten, die antike griechische und lateinische Texte studieren?
LEE Nur sehr wenige. Sie studieren eher das moderne Großbritannien, das moderne Amerika und das moderne Europa.
MATTHIAS NASS Können wir noch einmal auf die »asiatischen Werte« zurückkommen? Gibt es etwas, das man im Westen davon lernen kann?
SCHMIDT Meine erste Antwort war gewesen: Geduld. Meine zweite Antwort ist den Europäern gegenüber nicht sehr freundlich: Seid nicht zu religiös.
LEE Ich würde die Frage umformulieren und fragen, ob der Westen etwas Nützliches vom Osten übernehmen kann. Wenn ich ein Bewohner des Westens wäre, und in gewisser Weise bin ich es zur Hälfte, würde ich sagen: das konfuzianische Verständnis von Beziehungen, also von Familie, Mann und Frau, Eltern und Kindern, Geschwistern und Freunden, und der Treue zum Herrscher. Dies bildet die Grundlage einer friedlichen Gesellschaft. Wenn man stabile Familien hat, hat man Frieden und Stabilität. Leider müssen wir in Singapur eine gegenläufige Entwicklung feststellen. Wir haben viele Scheidungen. Aufgrund des westlichen Einflusses löst sich die Vorstellung, dass die Familie um jeden Preis zusammengehalten werden muss, langsam auf.
SCHMIDT Sie haben das gleiche Problem wie wir, nur dass es in Singapur fünfzig Jahre später auftritt. Das ist aber nichts, was aus dem Westen zu Ihnen kommt. Vieles andere, was aus dem Westen kommt, ist allerdings wirklich zu Ihrem Nachteil.
LEE Es ist der westliche Lebensstil, der für Frauen attraktiv ist, die sich befreit fühlen und ihr Leben genießen, ihren Lebensunterhalt selbst verdienen und nicht heiraten müssen, wenn sie nicht wollen. Da es immer noch als inakzeptabel gilt, uneheliche Kinder zu haben, ist die Folge ein besorgniserregender Bevölkerungsschwund. Darüber haben wir ja schon gesprochen.
SCHMIDT Dann wechsle ich jetzt das Thema und frage Sie, warum die Russen aus Deng Xiaopings Erfolg nichts gelernt haben.
LEE Weil sie zu stolz sind.
SCHMIDT Zu stolz?
LEE Sie müssen von niemandem lernen. Sie sind einzigartig, sie sind etwas Besonderes.
SCHMIDT Diese Antwort genügt mir nicht.
LEE Schon gar nicht würden die Russen bei den Chinesen in die Schule gehen, denn sie betrachten sich als den Chinesen überlegen. Sie lernen gern von den Deutschen, weil sie deutsche Maschinen und die deutsche Präzision bewundern. Ihnen ist Europa wegen Deutschland wichtig. Ich habe mit führenden Politikern in Russland gesprochen, und sie bestätigten mir, dass sie an Europa interessiert sind, weil sie an Deutschland interessiert sind.
SCHMIDT Waren dies Gespräche mit heutigen Politikern oder Gespräche in der Zeit von Breschnew und Gorbatschow?
LEE Ich habe Gorbatschow nur einmal getroffen. Deshalb kann ich nicht sagen, welche Ansichten er hatte, aber ich halte ihn für eine Übergangsfigur.
SCHMIDT Gleichzeitig war er eine tragische Figur.
LEE Und Breschnew, glaube ich, war kein tiefschürfender Denker.
MATTHIAS NASS Der größte Streitpunkt zwischen West und Ost sind vermutlich die Menschenrechte. Die Universalität der Menschenrechte wird in Frage gestellt. Welche Menschenrechte sind universal und welche nicht?
LEE Das Recht des Einzelnen, sein Leben zu gestalten, wie er es will, das Recht des Einzelnen auf Sicherheit
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