Ein letzter Brief von dir (German Edition)
Marek, als er schon in der Tür stand. «Sie würde es niemals vor Ihnen zugeben, aber sie spricht über Sie.»
«Ach, du meine Güte …»
«Es klingt, als ob Sie sich nicht auf der Nase herumtanzen lassen. Ich liebe das Mädchen, aber ich weiß, wie sie ist. Bogna ist viel jünger als ich, sie ist meine Halbschwester, obwohl wir in unserer Familie sonst keine halben Sachen machen. Jetzt ist mein Vater tot, und ich trage die Verantwortung für sie, also vielen Dank, dass Sie sich solche Mühe mit ihr geben.»
Maude war inzwischen in die Liebesromanabteilung gegangen. Bogna stand schon ungeduldig am Auto.
«Sie müssen mir nicht danken», erwiderte Orla. «Sie ist klug, sie ist begabt. Und sie ist wirklich eine Persönlichkeit», fügte sie vorsichtig hinzu.
«Eine typisch englische Untertreibung», entgegnete Marek. «Sehr nützlich.»
Orla lachte. «Na gut, sie ist ein Lehrer-Albtraum, aber eigentlich ist sie auch ganz süß.» Sie schauten beide aus dem Fenster, wo Bogna an der Autotür rüttelte und ein finsteres Gesicht machte. «Tief, aber präsent. Und das war keine englische Untertreibung. Es war eine irische Untertreibung. Aber das ist ganz ähnlich.»
«Ah. Ich habe den Akzent gar nicht erkannt.» Marek hatte Augen, die so dunkelbraun waren, dass sie fast schwarz wirkten. Sie blickten durchdringend, und Orla fühlte sich erkannt.
«Ihr Englisch ist perfekt», bemerkte sie und trat einen Schritt zurück.
«Ich bin schon sehr lange hier.» Marek schaute nachdenklich zur Seite. «Fast zwanzig Jahre.»
«Dann muss es Ihnen hier gefallen.»
«Marek!
Pospiesz się
!» Bogna konnte ebenso tief knurren wie ihr Bruder.
«Gefallen?» Marek dachte über das Wort nach und wandte sich zum Gehen. «London kann ein sehr einsamer Ort sein.» Er warf seine Autoschlüssel in die Luft und fing sie wieder auf. Dann schaute er über die Schulter, und ihre Blicke trafen sich. «Aber hin und wieder geschieht etwas. Ja. London ist ein Ort, an dem Dinge geschehen können.»
Orla wartete nicht, bis sie abgefahren waren. Sie ging zum Sofa und nahm
Mansfield Park
wieder zur Hand.
«Interessanter junger Mann», sagte Maude vom Tresen aus.
«Hmm», machte Orla.
Die Bahnhofsuhr über der Bar, ein skurriles Stück, das perfekt zu den anderen skurrilen Stücken im Soho Club passte (eine kopflose Goldstatuette, ein ausgestopfter Papagei, ein Kimono), zeigte Orla, dass Reece bereits dreiundvierzig Minuten zu spät war.
Sie nahm erneut die Speisekarte zur Hand und ging die Liste der Grundnahrungsmittel des 21 . Jahrhunderts durch, obwohl sie sie inzwischen auswendig kannte.
Nachhaltig gezüchteter Dorsch mit Pommes frites.
Schweinebauch.
Klassischer Hamburger.
Entweder hielt Reece etwas bei der Arbeit auf, er lag unter einem Zug, oder er hatte sie ganz schlicht vergessen. Sie war von Grund auf gesetzestreu – ein Charakterzug, den Sim zutiefst missbilligt hatte – und traute sich daher nicht, ihre Nachrichten auf dem Handy zu lesen, weil am Eingang ein Schild hing, auf das jemand handschriftlich gekritzelt hatte, dass Handys im Club verboten waren.
«Möchten Sie noch etwas Wasser? Oder möchten Sie mit dem Essen beginnen?» Die Kellnerin, eine dunkle Schönheit mit lebensfrohem indianischen Einschlag, fragte es in beinahe kumpelhaftem Ton. Alle hier waren kumpelhaft, aber professionell, als ob die besten Freunde des Gastes sich verabredet hätten, ihm ein gutes Essen aufzutischen, aber aus irgendwelchen Gründen nicht mit ihm am Tisch sitzen wollten.
«Äh.» Orla überlegte, was sie nun tun sollte. Ihr Neckholder-Sommerkleidchen hatte sich in ihrem Schlafzimmer noch gut angefühlt, aber inmitten all dieses ultraschicken Bordellplüschs in Rot und Gold hier kam es ihr völlig unangemessen vor. «Vielleicht ein Glas Wein? Den roten Hauswein?»
«Klar.» Die Indianerin lächelte. «Mal so richtig einen draufmachen.»
Der Rotwein war samtig weich, aber Orla lehnte ein zweites Glas ab. Eine Stunde war er jetzt zu spät. Vielleicht würde er gar nicht mehr kommen? Wann sollte sie gehen? Und dann stand er an ihrem Tisch, die Krawatte schief, das blasse Gesicht ein Bild tiefer Bestürzung. «Orla. Das ist unverzeihlich. Ich hoffe, du hast schon ein bisschen – ah, ja, gut.»
Die Leute in London küssten sich zur Begrüßung. Orla hatte in der Stunde, in der sie auf Reece gewartet hatte, eine Menge Küsserei beobachtet. Sie stand gerade auf, als er sich herunterbeugte, und Reeces Zähne prallten schmerzhaft mit
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