Ein letzter Brief von dir (German Edition)
von dem Blindgänger, dem imposanten Arbeitstier, dem völlig untypischen, aber irgendwie netten One-Night-Stand in Ibiza. Sie konnte ihr gesamtes Liebesleben in einer halben Stunde abhandeln.
Wahrscheinlich habe ich die ganze Zeit nur auf dich gewartet
, hatte sie gesagt. Oh, wie ihm das gefallen hatte!
Sie hatte nie die Gelegenheit gehabt, Sim nach seiner Vergangenheit zu fragen. Sie wusste, dass die Antwort darauf weit mehr Zeit in Anspruch genommen hätte. Jetzt war er fort, und ihre Phantasie füllte die Lücken und bevölkerte seine Vergangenheit mit feingliedrigen Schauspielerinnen, älteren Frauen, nuttigen Groupies, Schwestern von Freunden, Austauschschülerinnen, frechen Kellnerinnen, biegsamen Teenagern – mit jedem weiblichen Wesen aus seinem Jahr an der Schauspielschule plus den Freundinnen seiner Mutter.
«Wenn es nach Sim ginge, müsste ich ins Kloster gehen.»
«Wie du meinst.» Reece breitete die Arme aus, die Handflächen nach oben, als ob sie ein hoffnungsloser Fall wäre.
«Ich glaube, ich komm lieber allein.»
«Ich mach dir mal ’nen Vorschlag, Orla.» Reece lehnte sich über den niedrigen Tisch zu ihr hinüber. «Bring doch die Valentinskarte mit.»
«Als meine Begleitung?»
«Nein», sagte Reece mit spöttischer Geduld. «Bring sie mit, und wir … regeln das.»
«Du meinst, wir lesen sie?»
«Das könnten wir tun. Sie zusammen lesen.»
«Also …» Das fühlte sich entschieden zu intim an. Orla wand sich unbehaglich.
«Es könnte eine reinigende Erfahrung sein. Du müsstest sie mir nicht zeigen, aber ich könnte da sein, um dich zu unterstützen, während du sie liest, und dann könnten wir zur Party zurück, noch ein Glas Shampoo trinken und uns gegenseitig in den Pool schubsen.»
So ein Unsinn. Die Valentinskarte war kostbar und kein Furunkel, den man aufstechen musste.
«Oder», schwatzte Reece weiter, «wir könnten sie verbrennen. Rituell. Die Asche in den Himmel fliegen lassen. Damit sie deine Traurigkeit mit sich nimmt.»
«Wird Anthea auch dort sein?»
«Ja, klar.» Reece runzelte die Stirn. «Ist das ein Problem?»
«Nein. Warum sollte es eins sein?» Orla runzelte ebenfalls die Stirn.
«Keine Ahnung, weil du so gefragt hast.»
«Um ehrlich zu sein, habe ich nur versucht, dich von der Karte abzulenken, Reece. Ich brauche nicht noch einen Vortrag zu dem Thema.»
«Doch, den brauchst du ganz offensichtlich. Weil du eine Frau auf dem Höhepunkt ihres Lebens bist, deren wichtigste Beziehung die zu einem rosafarbenen Umschlag ist.»
«Warst du bei Sim auch so hartnäckig?»
«Immer.»
Sie grinsten beide. Es lag etwas Geschwisterliches in ihrer Beziehung, das Orla in den Beziehungen zu ihren richtigen Brüdern vermisste. Auf einer bestimmten Ebene waren sie sich sehr ähnlich, Reece und sie. Sie
verstanden
sich einfach. Sie verstand, warum er ihre Anhänglichkeit an die Valentinskarte beunruhigend fand und warum er sie immer wieder davon zu heilen versuchte. Sie fühlte sich geschmeichelt, dass er die Zeit und Energie aufbrachte, sich um sie zu kümmern, und deshalb wies sie ihn freundlich zurück.
«Ich werde die Sache auf meine Art verarbeiten, also Schluss damit!» Sie beugte sich über den Tisch und legte einen Finger auf seine Lippen. «Ich werd sie vielleicht überhaupt nicht lesen. Aber für jetzt und die nächste Zukunft ist diese Karte Sim. Also hab Nachsicht mit mir.»
Der Film hatte erwartungsgemäß eine ziemlich verwickelte Handlung. Orla hatte gedacht, dass sie in der Stimmung für Zeitsprünge und dystopische Zukunftsvisionen wäre, aber nach einer halben Stunde wünschte sie sich, doch lieber etwas mit Jennifer Aniston und einem Hund in den DVD -Player geschoben zu haben.
Im Ohrensessel neben ihr hatte Maude es aufgegeben, so zu tun, als folge sie der Handlung, und gab ein zartes Schnarchen von sich. Ihre Lider waren geschlossen und flatterten hin und wieder. Offenbar träumte sie Alte-Damen-Träume.
Orla schaltete den DVD -Player aus und dachte an Reeces Party. Sie hatte zugesagt, und sie würde hingehen, aber die Szenen, die sich in ihrem Kopf abspielten, waren erschreckend: eine glitzernde Party, die eines Jay Gatsby würdig war, jeder einzelne Gast mit Juwelen behängt, einer schöner als der andere, perfekt frisiert und höhnisch über die Unbekannte grinsend, die einen billigen Fetzen trug und keine Ahnung hatte, worüber man in diesen Kreisen redete.
Mit Sim war es so leicht gewesen, auf Partys zu gehen. Sein Leuchtturmcharme hatte
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