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Ein Lied über der Stadt

Ein Lied über der Stadt

Titel: Ein Lied über der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ewald Arenz
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auf einmal die Motoren auf, und die Maschinen rollten aufs Feld. Ein großes, gemeinsames »Ah!« stieg aus der Menge auf. Luise suchte nach ihrem Flieger und entdeckte ihn auf der gegenüberliegenden Seite; er saß in der vorletzten Maschine von rechts. Luise sah in den Himmel. Bis auf ein paar wenige leichte Wolken war er blau. Ideales Flugwetter, dachte sie. Und dann kam der erste Start. Eine Klemm. Nach wenigen Metern, so kam es ihr jedenfalls vor, stieg sie auf. Leicht und so, als sei es ganz natürlich. Es sah völlig mühelos aus. Wie manchmal in ihren Träumen, wenn sie nur den einen Schritt vom Dach machen musste oder von einer Klippe, und dann hing sie schon in der Luft, ohne mit den Armen rudern zu müssen, schwerelos, ganz und gar frei. Sie hatte nie Angst vor Träumen, in denen sie fiel. Sie fiel, ohne jemals aufzuschlagen. Einmal hatte sie geträumt, sie fiele aus dem Himmel in ein Meer, fiele weiter durch das Wasser und schließlich durch den Meeresgrund, und ganz am Ende dieses fast unendlich langen Falls war sie mit einem sanften Ruck in ihrem Bett gelandet. Es war ein Gefühl gewesen, als könnte man nie zu Tode stürzen, als fiele man immer nach Hause.
    Die Klemm stieg in einer weiten Spirale über dem Flugfeld auf, und als sie etwa achtzig bis hundert Meter Höhe erreicht hatte, entrollte sich ein Banner, das waagerecht hinter dem Heck der Maschine in der Luft stand und nur am Ende ein wenig flatterte: »Willkommen zur Flugschau in Würzburg 1929!« stand darauf zu lesen, und rauschend applaudierte die Menge.
    Nun stieg Flugzeug um Flugzeug auf, und kein Kopf senkte sich mehr. Drei flogen in Formation über-, neben-, unterei­nander. Manchmal sah es so aus, als berührten sich ihre Flügelspitzen. Jetzt kurvten sie in weitem Bogen vom Flugplatz weg, drehten in etwa ein Kilometer Entfernung und kamen im Sinkflug auf die Menge zu. Immer tiefer flogen sie, wenige Meter über dem Boden nur – es sah gefährlich aus – und war es wahrscheinlich auch. Und dann, kurz bevor sie das Gelände erreichten, rollten sie, eines nach dem anderen, um die eigene Achse. Ein Aufschrei ging durch die Menge; jeder hatte geglaubt, die Flügelspitzen würden den Boden berühren. Unter unglaublichem Jubel dröhnten die drei Maschinen nur wenige Meter über den Köpfen der Menschen nach Osten. Dann stieg eine weitere Staffel auf, diesmal sehr hoch, und als die Piloten oben waren, entzündeten sie Rauchbomben, die an den Flügeln und am Rumpf angebracht waren. Roter, schwarzer, blauer Rauch zog in langen Bahnen hinter ihnen her, überkreuzte sich, verflocht sich zu einem unglaublich komplizierten, bunten Band im hohen Sommerblau des Himmels, als die Maschinen nach einem ausgeklügelten System ihre Flugbahnen kreuzten, rollten, mit den Spitzen wackelten, über- und untereinander durchflogen. Luise hörte, wie die Menschen neben ihr den Atem anhielten, wie sie »Ah« oder »Oh« riefen, aber am meisten sprach ihr ein kleines Mädchen aus dem Herzen, das auf der Schulter seines Vaters saß.
    »Märchenschön«, sagte es ein ums andere Mal, und Luise dachte, ja, das ist es: märchenschön.
    Ihr Flieger hatte in einer der Maschinen mit den Rauchfahnen gesessen, und Luise klatschte besonders fest, als er landete. Es war etwas anderes, wenn man ein Bild von demjenigen hatte, der da flog, dachte sie, auch wenn es nur ein ganz kurzes Gespräch gewesen war. Schon hatte er ein Gesicht, und es war nicht mehr nur das Flugzeug, sondern man sah den Menschen darin. Nun war die Schau in vollem Gang. Starts und Landungen griffen so ineinander wie Zahnräder, und es war, als seien alle Maschinen Teil eines großen, sehr präzisen Uhrwerks. Loopings wurden so eng geflogen, dass der Sturm der Propeller den Männern in der Menge die Hüte vom Kopf riss und die Kopftücher der Frauen flatterten. Achten wurden in so unmöglichen Kurven gezeigt, dass man das Ächzen der Verstrebungen in den Flügeln hörte. Das Heulen der Maschinen, wenn sie stiegen, das gefährliche Dröhnen im Sturzflug, das Pfeifen der Luft, wenn die Drähte der Verspannungen sie durchschnitten, das war für Luise ein mitreißendes, kraftvolles Konzert. So hörte es sich manchmal an, wenn im Herbst der Sturm gegen das Haus anrannte und die schweren Bäume beugte und man heimlich durch die Luke aufs Dach kletterte und sich, an den Schornstein geklammert, wünschte, man hätte Mut genug, die Arme auszubreiten und sich fortreißen zu lassen.
    Sie merkte nicht, wie die Zeit

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