Ein Lord mit besten Absichten
Kinder haben zu können, bewahrt … aber das habe ich nicht. Ich habe versagt, Harry, und dieser Gedanke wird mich bis ans Lebensende verfolgen. Und was …« Noble starrte ins Leere. »Was, wenn ich auch bei Gillian versage?«, fragte er leise.
»Das wirst du nicht«, sagte Rosse entschlossen. »Wir halten bei Rowley, wechseln die Pferde und sehen mal, ob uns der Bow Street Runner eine Nachricht hinterlassen hat, in welche Richtung sie gefahren sind. »Wir werden sie finden.«
»Du weißt, was er mit Elizabeth gemacht hat«, sagte Noble mit heiserer Stimme. »Er hat sie geschlagen. Mit einem Messer gequält. Er hat sie auf eine Weise missbraucht, wie nie eine Frau missbraucht werden sollte. Er muss wahnsinnig sein – vor Eifersucht oder Hass oder – Gott weiß was. Was soll ihn aufhalten, seine Wut auf mich an Gillian auszulassen? Was soll ihn aufhalten, ihr die gleichen unmenschlichen Dinge anzutun?«
Seine letzten Worte waren schon fast ein Schluchzen. Rosse packte fest den Arm seines Freundes. »Noble, hör auf, dich selbst zu quälen. Das bringt weder dir noch Nick, noch Gillian etwas. Jetzt reiß dich zusammen, Mann, und dann lass uns alle Orte durchgehen, wo Tolly sein könnte.«
Gillian war nicht unbedingt erfreut. Als sie die vertraute Gestalt des Greises erblickte, der sie zu sich winkte, folgte sie dieser Aufforderung, ohne zu zögern und ohne ihre Entschuldigung bei Lord Carlisle zu Ende zu sprechen. Noble war damit beschäftigt, einen verdrießlich dreinschauenden Crouch anzubrüllen, und Charlotte hatte Nick noch fest im Griff. Daher ließ sie Lord Carlisle und Sir Hugh stehen und schlüpfte durch die Tür zu einem kleinen Vorraum.
»Palmerston, ich bin überrascht, Sie hier zu sehen. Ich hätte nicht gedacht, dass Sie sich für diese Art von Zeitvertreib interessieren.«
Der Alte ließ sich mithilfe seines Stocks langsam auf einer Bank nieder. Er lachte sie leise und keuchend an. »Tja, Mädchen, glauben Sie etwa, ich würde meinen Patensohn um seine Ehre kämpfen lassen, ohne dabei zuzusehen, hm?«
»Ihr
Patensohn
?«, stieß Gillian aus, während sie neben ihm Platz nahm. »Ich wusste nicht, dass er Ihr Patensohn ist.«
»Aye, Patensohn und angeheirateter Urenkel.«
Gillian hob die Brauen. »Sie sind Elizabeths Urgroßvater?«
»Aye.« Er machte ein angewidertes Gesicht, das Gillian an das antike, zerknitterte und spröde Pergament erinnerte, das sie einmal gesehen hatte. Genau wie jenes schien auch Palmerstons Gesicht mehr als seinen gerechten Anteil an Jahren abbekommen zu haben.
»Elizabeth war ein bösartiges Mädchen. Wirklich böse.«
Gillian blickte ihn erstaunt an. »Ihre eigene Urenkelin? Böse?«
»Aye, das war sie. Sie liebte es, Dinge zu zerstören, schon als sie noch ganz klein war. Mit Grausamkeiten vertrieb sie sich die Zeit. Hab sie mehr als einmal dabei erwischt, wie sie meine Hunde quälte. Hab sie dafür mal die Peitsche spüren lassen, aber da hat sie sich nur stöhnend gewunden und gebettelt, ich sollte weitermachen.«
Palmerstons strahlend blaue Augen lugten unter zwei buschigen, weißen Brauen hervor. »Sie wissen, wovon ich spreche, Mädchen?«
»Ich … nein, ich schätze nicht«, gab Gillian zu.
»Einige Menschen – kranke Leute, Menschen, die krank im Kopf sind – finden Gefallen daran, anderen Schmerzen zuzufügen. Andere Leute wiederum erlangen Befriedigung durch ihre eigenen Schmerzen.«
Gillian kräuselte in ungläubigem Staunen die Nase.
Palmerston nickte. »So war Elizabeth. Sie genoss ihren Schmerz, und es machte ihr Spaß, anderen wehzutun.« Er lehnte sich zurück und schloss die Augen. »Besonders gerne tat sie ihrem Mann weh. Und seinem Sohn.«
»Aber warum?«
Palmerston schüttelte den Kopf. »Solche Menschen haben keinen Grund. Sie sind einfach krank. Merken Sie sich das, Mädchen. Es gibt noch mehr Menschen wie Elizabeth, die Ihnen wehtun würden, wenn sie könnten.«
»Mir? Wer?«, wollte Gillian wissen.
Palmerston gab keine Antwort; er lehnte einfach nur mit geschlossenen Augen an der Wand.
»Ist es dieselbe Person, die versucht hat, Noble etwas anzutun?« Sie schüttelte den Alten sanft, doch er weigerte sich, noch mehr zu sagen. Sie lehnte sich neben ihm zurück und ignorierte das plötzliche Krachen und die barschen Stimmen aus dem Raum nebenan. Elizabeth hatte Noble gehasst? Wenn das tatsächlich der Fall war, hatte er vielleicht gar nicht um sie getrauert; vielleicht hatte sie seine Abneigung gegenüber seiner ersten Frau
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