Ein Lord mit besten Absichten
handeln und sich mit Lord Carlisle zu treffen. Doch sie war nicht dumm, und ihr war bewusst, dass jede Begegnung mit Carlisle vor Zeugen stattzufinden hatte, damit ihr Ruf in der Gesellschaft und bei ihrem Mann keinen Schaden nahm. Um ehrlich zu sein, kümmerte es sie nicht im Geringsten, was Erstere dachte, doch Letzterer bereitete ihr arges Kopfzerbrechen.
Gillian begrüßte Lady Gayfield, die sich von ihrem Erscheinen äußerst entzückt zeigte und fragte, ob denn der Earl auch bald eintreffen würde. Lady Gayfield war frisch verheiratet und noch eine recht nervöse Gastgeberin, war diese Abendgesellschaft doch erst ihre zweite. Dennoch fand sie es spannend, dass genau die beiden Personen der guten Gesellschaft anwesend sein würden, über die zurzeit am meisten geredet wurde.
»Lord Weston wird bald kommen«, erklärte Gillian der Viscountess. »Er musste einen wichtigen Termin wahrnehmen; aber er hat versprochen, sich später zu uns zu gesellen.«
Lady Gayfield, die spürte, dass
ein
Weston zwar gut,
zwei
jedoch besser waren – vor allem, wenn man darauf spekulieren konnte, dass sie etwas so Skandalöses anstellten, wie zum Beispiel sich in aller Öffentlichkeit in die Arme zu fallen –, war mehr als glücklich, auf das Eintreffen des Earls zu warten, auch wenn es Stunden dauern sollte.
»Gestatten Sie mir, Ihnen meine Bewunderung für Ihr Handeln am gestrigen Abend auszusprechen?«
»Mein Handeln?« Gillian blickte auf ihre noch immer leicht bläulich verfärbten Handflächen.
»Ihre … Ihre innige Umarmung. Sie war so überaus romantisch, so voller Leidenschaft und
l’amour
! Sollten die Gefühle Sie heute Abend nochmals überkommen und Sie den Wunsch verspüren, Ihren Ehemann zu umarmen, lassen Sie sich ruhig hinreißen. Sie sind hier unter Freunden, Lady Weston, Freunden, die Sie nicht tadeln würden für das, was richtig für Ihren Ehemann und zudem völlig natürlich ist.«
Gillian kämpfte gegen das Zucken um ihre Mundwinkel. »Vielen Dank, Lady Gayfield. Sollten mich die Emotionen überkommen und ich es als notwendig erachten, meinen Mann zu küssen, werde ich dies in der Gewissheit tun, Ihre uneingeschränkte Zustimmung zu genießen.«
»Sehr richtig«, lächelte Lady Gayfield entzückt und drückte Gillians Hand. Sie malte sich bereits den auf ihrem Fest seinen Ursprung nehmenden Klatsch und Tratsch aus, der am nächsten Tag kursieren würde, sollten die Westons sich entsprechend danebenbenehmen. »Tatsächlich würde ich es Ihnen keineswegs verübeln, wenn Sie Ihren Gefühlen freien Lauf ließen.«
Gillian fand die Vorstellung, dass die gesamte Hautevolee mit angehaltenem Atem auf eine Kostprobe ihrer Zuneigung wartete, sehr amüsant.
»Schließlich sind Sie ja frisch verheiratet.«
»Wie wahr, aber auch wenn ich Ihr Angebot, dem Ruf unserer Lust und Leidenschaft einfach nachzugeben, durchaus zu schätzen weiß, glaube ich doch, dass Lord Weston nicht so weit ginge, mir vor den Augen Ihrer Gäste beizuliegen.«
Die Gäste, die hinter ihr standen, schnappten hörbar nach Luft, als sie diese empörende Bemerkung hörten.
»Oh, natürlich nicht«, keuchte auch Lady Gayfield in einer Mischung aus Entsetzen und Begeisterung. Wer wusste schon, was Lady Weston als Nächstes sagte? Beinahe hoffte sie, es möge etwas ebenso Schockierendes sein. Wenn die Westons sich auch weiterhin nicht vor derart skandalösem Benehmen scheuten, wäre ihr der Ruf als Gastgeberin der interessantesten Feste der Londoner Society sicher.
Gillian entschuldigte sich, entfloh sowohl Lady Gayfield als auch Lord Rosse und machte sich auf die Suche nach ihrer Cousine. Sie war weder im Empfangsraum noch im Speisezimmer zu finden, und als Gillian soeben einen Blick ins Kartenspielzimmer werfen wollte, entdeckte sie eine vertraute Gestalt, die in einer Ecke neben einer gigantischen Topfpalme saß.
»Sir«, grüßte sie und knickste höflich.
»Hä? Ach, Sie sind’s, Mädchen. Hab mir schon gedacht, Sie heute Abend hier zu sehen.«
Gillian nahm neben dem Greis auf dem Zweiersofa Platz und überlegte, wie sie den Alten nach seiner Beziehung zu Noble fragen sollte.
Seine strahlend blauen Augen funkelten sie unter den buschig weißen Brauen an, fast so, als könnte er ihre Gedanken lesen.
»Sie sehen aus, als wären Sie gerade einem Straßenräuber begegnet.«
»Ist auch so, glaube ich. Aber einem ehrbaren.«
»Hä? Ach, Carlisle.«
Gillian starrte den gebrechlichen Alten mit offenem Mund an. »Ja, doch woher wissen
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