Ein Lord zu Tulivar (German Edition)
langsam dämmerte, möglicherweise bald verwandt sein würde. Diese Aussicht beschäftigte mich für einige Zeit mehr als Lord Olifek und das, was er mit mir vorhatte.
Ich genehmigte mir einen Frühschoppen, um meine Nerven zu beruhigen.
Nach einem eher frugalen Mittagsmahl, während dessen sich Olifek bemerkenswert wortkarg gezeigt hatte, kam der edle Lord auf mich zu. Es nahte, so mein Gefühl, die Stunde der Wahrheit.
»Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich Euren Zahlen Glauben schenken darf«, erklärte der Eintreiber relativ unumwunden. Ich musste ihm zugutehalten, dass er nicht zu großem Geschwafel neigte und seine Arbeit nicht hinter einer Wolke unnötiger Floskeln verbarg, um ihr einen Anschein zu geben, der der Realität nicht entsprach. Er wollte mein Gold, er nahm an, dass ich es hatte, und er ging davon aus, dass ich es ihm nicht geben wollte. Konsequenterweise misstraute er mir (und meinem sorgsam frisierten Kassenbuch). Und er zeigte es, ohne viel Vertun. Bei Lord Olifek wusste man, woran man war.
Ich fand das durchaus erfrischend.
»Euer Wunsch ist …?«, fragte ich scheinbar ahnungslos.
Olifek grinste. »Mein Wunsch ist, die größten Kostenfaktoren zu inspizieren und nicht zuletzt Eure Behauptung zu überprüfen, die Provinz befinde sich im Verteidigungszustand.«
Natürlich.
»Dann darf ich Euch in die Stadt bitten. Ich werde meine Truppe gerne zur Inspektion antreten lassen. Ich schicke sogleich einen Boten.«
»Ich will auch mit jenen Flüchtlingen reden, die aus dem Dorf Felsdom hierher gekommen sind.«
»Mit wie vielen?«
»So viele wie möglich. Ich habe Zeit.«
»So sei es.«
Ich wandte mich um und winkte dem Kastellan. Ich erteilte einige gut hörbare Befehle im Sinne des Eintreibers, dann widmete ich ihm wieder meine volle Aufmerksamkeit.
Wir begaben uns auf unseren Pferden in die Stadt.
Es war alles gut vorbereitet worden. Auf dem Marktplatz stand eine Armee, von deren Existenz ich bis vor Kurzem nichts geahnt hatte. Ich sah sie zum ersten Mal, doch hütete mich, allzu deutlich zu glotzen, denn ich musste den Baron spielen, der immer von allem wusste und über alles die Kontrolle hatte.
Ha, ha!
Mott und Frederick hatten 200 Mann »rekrutiert«. Da waren meine 30 Soldaten, die einzigen, die tatsächlich in meinen Diensten standen. Gut 20 von ihnen waren hier, und sie taten so, als seien sie Offiziere. Dementsprechend standen sie im Vordergrund, Brustplatte poliert, mit lustigen, farbigen Büscheln auf den Helmen, die sie in jeder Schlacht zu beliebten Zielen gegnerischer Bogenschützen machen würden. Lord Olifek, das wusste ich, hatte nie eine Schlacht von Nahem gesehen. Seine Feinde waren Steuerpflichtige und jene, die er dafür hielt. Diese verteidigten sich nur selten mit Pfeil und Bogen.
Dann waren da jene ehemaligen Söldner, die in Tulivar geblieben waren. Auch sie hatten ihre Rüstungen und Helme aus dem Keller geholt, poliert und sahen tatsächlich wie einigermaßen ordentliche Krieger aus. Mott und Frederick hatte sie in der Reihe der anderen Männer verteilt, möglichst weit vorne, damit der Blick als Erstes auf sie fiel.
Zudem hatten die beiden alten Männer gut 150 »Freiwillige« aufgetrieben. Sie bestanden aus jedem Mann, den sie hatten aufgabeln können, der noch nicht zu alt oder noch zu jung war, ein Waffenträger zu sein. Sie hatten diese armen Schweine aufgebrezelt so gut sie konnten: meist trugen diese Speere, die auf den ersten Blick ordentlich wirkten, aber bei fachmännischer Betrachtung nicht mehr waren als schnell geschnitzte und eilig bemalte Holzstöcke mit einer offenbar aus Hartholz gefertigten Speerspitze. Alle trugen eine einheitliche Kopfbedeckung, nämlich die in Tulivar durchaus übliche Lederkappe, jetzt aber durch die fleißigen Finger zahlreicher Näherinnen mit Ohrenklappen sowie einem Sigill versehen, das sie als Krieger des Barons von Tulivar ausweisen sollte. Das fand ich spannend, denn ich hatte mir bisher weder Wappen noch Sigill gegeben. Jemand hatte sich kreativ betätigt, und ich wurde durch den Anblick über die Tatsache belehrt, dass Geradus, Baron von Tulivar, den Bergadler im Sigill trug.
Keine so schlechte Wahl, wie ich fand.
Viel Zeit zum Üben hatten die Männer nicht gehabt. Soweit ich erfahren hatte, waren vor allem die ehemaligen Söldner vom Bürgermeister dafür rekrutiert worden, aus dem Haufen etwas zu machen, was wie eine einigermaßen ordentliche Miliz aussah. Ich wappnete mich.
Es war Selur, der den
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