Ein Lotterielos. Nr. 9672
aus dem Tal zurück.
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Dann und wann einmal mußte sich Joel aus dem Haus
entfernen, um Touristen, die den Gusta besteigen wollten,
als Führer zu dienen, und Sylvius Hog hätte ihn wohl gern
dabei begleitet. Er behauptete zwar, so gut wie geheilt zu
sein, da die Schrunde an seinem Bein sich vernarbt hatte,
Hulda widerriet ihm aber gar zu ernstlich, sich einer für
ihn jetzt noch viel zu großen Anstrengung auszusetzen, und
wenn Hulda das sagte, mußte er schon gehorchen.
Es ist übrigens ein merkwürdiger Berg, dieser Gusta,
dessen von schneeerfüllten Schluchten gestreifter Mittelke-
gel aus dichtem Tannenforst aufragt, wie aus einem grünen
Kragen, der ihn unten vollständig umhüllt. Dazu bietet sein
Gipfel eine wunderbar schöne, ausgedehnte Aussicht, die im
Osten der Bezirk von Numedal, im Westen ganz Hardanger
mit seinen großartigen Gletschern umfaßt, während man
dicht an seinem Fuß das vielfach gewundene Vestfjorddal
zwischen dem Mjös- und Tinn-See, Dal mit seinen nied-
lichen Häusern, die wie einem Kinderspielzeugkasten ent-
nommen aussehen, und den Lauf des Maan überblickt, der
als spiegelndes Band da und dort aus dem Grün der ebenen
Strecken hervorleuchtet.
Um eine solche Bergfahrt auszuführen, brach Joel schon
morgens um 5 Uhr auf und traf gewöhnlich abends um 6
Uhr wieder zu Hause ein. Sylvius Hog und Hulda gingen
ihm dann entgegen und erwarteten ihn neben der Fähr-
mannshütte. Hatte das urwüchsige Fahrzeug die Touris-
ten und deren Führer ans Ufer gesetzt, so wechselten die
drei einen herzlichen Händedruck und verbrachten zusam-
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men wieder einen höchst angenehmen Abend. Der Profes-
sor schleppte zwar noch immer etwas den Fuß, doch er be-
klagte sich nicht und schien überhaupt nicht zu viel Eile zu
haben, sich vollkommen wiederhergestellt zu sehen, da das
ja fast gleichbedeutend mit dem Verlassen des gastlichen
Hauses von Frau Hansen war.
Die Zeit verflog ihm übrigens auffallend schnell. Er hatte
nach Christiania gemeldet, daß er sich noch einige Zeit in
Dal aufzuhalten gedenke. Das Gerücht von seinem Aben-
teuer am Rjukanfos war durch das ganze Land gegangen;
die Blätter hatten es weitererzählt und einzelne davon es
noch in ihrer eigenen Weise ausgeschmückt. Infolgedessen
strömte – abgesehen von den Broschüren und Tagesblät-
tern – eine ganze Menge Briefe nach dem Gasthaus zusam-
men. Er mußte alle lesen, mußte auf die meisten antwor-
ten.Sylvius Hog las, antwortete, und da er in seine Briefe gar
so häufig die Namen Joels und Huldas einfließen ließ, wur-
den auch diese bald zusätzlich in ganz Norwegen bekannt.
Der Aufenthalt bei Frau Hansen konnte sich indes nicht
bis ins Unendliche verlängern. Doch Sylvius Hog war sich
auch nach langem Zeitraum ebensowenig wie bei seiner
Ankunft darüber klar, wie es ihm möglich sein würde,
seine Schuld abzutragen. Inzwischen fing er dagegen an zu
mutmaßen, daß diese Familie doch nicht so glücklich sein
möge, wie er immer geglaubt hatte. Die Ungeduld, mit der
Bruder und Schwester jeden Tag den Postboten von Chris-
tiania oder von Bergen erwarteten, ihre Enttäuschung, ja
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ihr Kummer, wenn sie sahen, daß er niemals einen Brief für
sie mitbrachte, waren zu deutliche Zeugen dafür.
Jetzt schrieb man schon den 9. Juni – und noch immer
keine Nachricht von der ›Viken‹! Schon handelte es sich
also um eine Verzögerung von über 2 Wochen nach dem
für seine Heimkehr bestimmten Zeitpunkt. Nicht ein ein-
ziger Brief von Ole! Nichts, was den heimlichen Kummer
Huldas hätte mildern können! Das arme Mädchen begann
allmählich zu verzweifeln, und Sylvius Hog fand sie eines
Morgens mit recht rotgeweinten Augen.
»Was bedeutet das?« fragte er sich. »Ein Unglück, das
man fürchtet und mir verhehlt? Betrifft es wohl ein Ge-
heimnis der Familie, in das ein Fremder einzudringen nicht
berechtigt ist? Doch bin ich für sie denn immer noch ein
Fremder? Nein, das können sie doch selbst nicht glauben.
Nun, wenn ich meine Abreise ankündige, werden sie viel-
leicht deutlich einsehen, daß es ein wahrer Freund ist, der
von ihnen scheidet.«
Noch an demselben Tag begann er also:
»Liebe Freunde, es naht nun der Zeitpunkt, wo ich zu
meinem lebhaften Bedauern euch doch endlich verlassen
muß.«
»Schon, Herr Sylvius, schon!« rief Joel mit einer Lebhaf-
tigkeit, die er kaum zu bemeistern vermochte.
»O, hier bei
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