Ein Macho auf Abwegen
den
genauen Tatzeitpunkt nicht kenne. Ein Passant habe sie gegen Mitternacht,
ungefähr fünf Gehminuten vom Frauenhaus entfernt, aufgefunden. Ein kleiner
Hoffnungsfunke durchfuhr Inge Fink: „Sie ist schon um kurz nach elf hier
weggegangen. Vielleicht ist sie es dann doch nicht!“ Die Wahrscheinlichkeit,
dass es sich nicht um Christina handelte, war allerdings extrem gering. Das war
Inge in ihrem tiefsten Inneren klar. Alles andere passte genau. Man wusste ja
nicht, wie lange diese Frau schon auf der Straße gelegen hatte, bevor sie
entdeckt wurde.
Die Polizisten nahmen sie zur Identifizierung der
Unbekannten mit ins Krankenhaus. Die schwerverletzte Frau war bereits im OP, wo
man sie bereits notoperierte.
Zusammen mit den Schutzmännern verbrachte Inge die nächsten
Stunden zwischen Hoffen und Bangen auf dem Krankenhausflur.
Endlich öffneten sich die großen Automatiktüren des
Operationsbereiches, und es wurde ein Bett herausgeschoben. Inges schlimmsten
Befürchtungen bestätigten sich ihr auf einen kurzen Blick. Ohne jeden Zweifel
handelte es sich um Christina.
Sie durfte sie auf die Intensivstation begleiten und
versuchte dort geduldig Auskunft über ihre immer noch bewusstlose Mitarbeiterin
zu geben. Erst jetzt wurde Inge Fink richtig bewusst, wie wenig sie eigentlich
von Christina Klasen wusste.
Christinas Zustand war überaus beunruhigend, und ihre
mütterliche Freundin blieb die ganze übrige Nacht bei ihr.
Marc Stevens fuhr an diesem Morgen, obwohl er die ganze
Nacht wieder kein Auge zu bekommen hatte, schon sehr zeitig ins Büro. Der
Streit mit Christina Klasen hatte ihn nicht zur Ruhe kommen lassen.
„Tun Se sich mit dat Frolln Klasen nochma in Ruhe
zusammensetzen! Se müssen mit se reden, abber ma vernünftig, Marc!“, mahnte ihn
Mia beim Frühstück. Seine Haushälterin sprach wieder einmal das aus, was er
sowieso schon dachte. Er musste noch einmal in aller Ruhe mit ihr reden. Er
würde sie heute Mittag zum Essen in ein schickes Restaurant einladen. Wenn sie
nicht wieder so trotzig wäre, wollte er ihr in Ruhe zuhören, denn im Grunde
hatte sie ja Recht! Was verstand er schon von dem wahren Leben da draußen? Sie
sollte ihm von ihrer Arbeit im Frauenhaus erzählen. Er würde sich bemühen und
wenigstens versuchen sie zu verstehen. Er war sogar bereit noch einen Schritt
weiterzugehen. Er würde sich bei ihr entschuldigen. Für seine miese Laune, die
er ganz alleine an ihr ausgelassen hatte und für seinen Starrsinn. Er hatte
einen Fehler gemacht. Er hätte ihr, wie vereinbart, früher Bescheid geben
müssen. Aber er hatte es ganz einfach vergessen! Er hätte sie mit dem Taxi
fahren lassen sollen. Aber er wollte sie ja unbedingt selber bringen! Eines
hatte er auch begriffen: Mit seinem vielen Geld konnte er Frau Klasen nicht
beeindrucken. Für sie gab es wichtigere Dinge.
Sie waren sich in der letzten Zeit etwas näher gekommen,
hatten sich doch echt prima verstanden, und er hatte es sogar fertig gebracht,
den Eisklotz ein wenig aufzutauen. Er war so gerne mit ihr zusammen gewesen.
Aber jetzt hatten sie alles wieder zerstört!
Sie war noch nicht an ihrem Arbeitsplatz. Marc schaute
nervös auf die Uhr. Sie hätte eigentlich schon seit zehn Minuten da sein
müssen. Für gewöhnlich war Frau Klasen die Pünktlichkeit in Person. Er ging ins
sein Arbeitszimmer, setzte sich an seinen Schreibtisch und wartete.
Er tat nichts anderes, als alle paar Sekunden auf seine
Armbanduhr zu sehen und sich auf jedes Geräusch im Vorzimmer zu konzentrieren.
Eine endlos lange halbe Stunde später war sie jedoch immer noch nicht da.
Ganz langsam wurde ihm das gesamte Ausmaß ihrer gestrigen
Auseinandersetzung klar.
Scheiße! Die kommt tatsächlich nicht mehr!, dachte er. Er
musste sich mit ihr unterhalten. Das war ihm immer noch außerordentlich
wichtig. Er konnte die Angelegenheit nicht einfach auf sich beruhen lassen.
Irgendeinen Weg musste es doch geben, wieder vernünftig miteinander arbeiten zu
können.
Er wählte Christinas Privatnummer. Nichts, es nahm niemand
ab. Er überlegte, was er noch tun könnte, um mit Frau Klasen Kontakt aufnehmen
zu können. – Gaby! Vielleicht wüsste die Kleine aus dem Schreibbüro etwas. Es
konnte doch sein, dass die Klasen ihr den ganzen Schlamassel schon erzählt
hatte. Im hausinternen Telefonregister suchte er hektisch nach Gabys Durchwahl.
„Hallo, hier Marc!“, meldete er sich hastig. „Marc
Stevens?“, rief Gaby überrascht. „Ja, ja. Gaby, hör’ zu!
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