Ein Macho auf Abwegen
jetzt wohl oder übel Rede und Antwort stehen. „Oh,
falls Sie das meinen. Ich verdiene mit dieser Arbeit nichts. Ich helfe nur in
einem Frauenhaus.“
„In einem Frauenhaus, a-ha“, murmelte Marc und zog vor
Erstaunen seine Augenbrauen fast bis zum Haaransatz hinauf. Er wollte eindeutig
mehr erfahren. „Machen Sie dort die Büroarbeit?“
„Nein, wir helfen dort Frauen, die von ihren Männern
schlecht behandelt wurden, wieder auf die Beine zu kommen. Wir geben
Hilfestellung, ein bisschen Lebenshilfe.“ Damit wollte Christina es eigentlich
gut sein lassen, doch Stevens fragte weiter. „Warum machen Sie ausgerechnet
diese Arbeit in Ihrer Freizeit? Sie haben doch keine Ausbildung für so etwas.“
Christina erklärte weiter. „Wissen Sie, wenn man fremd in einer Großstadt wie
Hamburg ist, kann man sich auf diese Weise ganz gut die Zeit vertreiben und tut
auch noch etwas Nützliches. Man kann so vieles tun. Dafür muss man nicht
unbedingt ausgebildet sein“, sagte sie und dachte: So, jetzt reicht es aber!
Stevens begriff sofort. Sie hatte zugemacht. An ihrer
verschlossenen Miene konnte er ablesen, dass sie nicht mehr bereit war, mit ihm
über dieses Thema weiterzureden. „Ach so! Ja, ja ...“ Was ist nur mit dieser
Frau los?, fragte er sich selbst.
Nun war es an der Zeit in das Studio zu fahren. Heute und
morgen sollten die endgültigen Aufnahmen für die CDs gemacht werden.
Stevens war in der Tat nicht schnell zufrieden zu stellen.
Er ließ die Jungtalente bestimmte Passagen immer wieder neu einsingen, bis
jeder kleinste Satz genauso klang, wie er sich das vorgestellt hatte. Christina
wusste manchmal gar nicht, worum es ihm eigentlich ging. Die feinen
Unterschiede, die kleinen Nuancen der verschiedenen Interpretationen klangen
für ihr ungeschultes Ohr alle gleich. Die Sänger waren sichtlich gestresst,
manchmal kamen sie ihr absolut überfordert vor, doch Stevens setzte seine
Ansprüche konsequent durch. Dabei hatte er trotzdem eine Engelsgeduld und blieb
stets freundlich zu den noch unerfahrenen, jungen Musikern. Er sprach von
Emotionen und gab ihnen Tipps, wie man bestimmte Gefühle wie auf Knopfdruck
abrufen konnte. Das größte Problem dieses Studiotages waren aber die mangelnden
Englischkenntnisse der jungen Männer. Christina musste schließlich die Texte
komplett ins Spanische übersetzen. „Wenn die nicht verstehen, was sie singen,
hat das alles keinen Zweck!“, rief Stevens entnervt und trug den Sängern auf,
die Inhalte jeder Textzeile genauestens zu studieren, während er mit Christina
Pause machen wollte.
„Wollen wir ein wenig an die frische Luft gehen?“, fragte
er. „Ich muss jetzt sofort hier raus, sonst werde ich noch wahnsinnig!“ Er
hatte wieder Hunger. „Wenn ich Stress habe, muss ich essen.“
Christina schlug vor, frischen iberischen Schinken und Weißbrot
zu kaufen. So machten sie es. Sie ließen sich ein paar Scheiben direkt von
einem der unzähligen Beine abschneiden, die in dem Delikatessengeschäft in
Massen zum Lufttrocknen von der Decke baumelten.
Christina führte ihn zu einem typischen Platz, der von alten
Häusern und Arkaden umgeben war, in das malerische gotische Viertel. Sie sahen
sich nach einer der seltenen schattigen Sitzgelegenheiten um. Christina
erspähte auf der Brunnenmauer eine Möglichkeit zum Ausruhen. „Zwischen diese
Leute da wollen Sie sich hinsetzen?“, zweifelte Stevens.
Der Brunnen war nicht gerade mit den „Obersten Zehntausend“
Barcelonas belagert. Vielmehr hielten sich dort schlecht gekleidete, schmutzige
und schon lange nicht mehr rasierte Männer auf. Zum Teil waren sie mit Wein-
und Schnapsflaschen bewaffnet. Stevens war nicht ganz wohl bei diesem Anblick,
doch Christina steuerte energisch auf den Brunnen zu, setzte sich hin und
packte Brot und Schinken aus.
Stevens war immer noch unentschlossen, ihm blieb jedoch
nichts anderes übrig als seiner Assistentin zu folgen. „Frau Klasen, das sind
doch alles Penner!“ Christina kramte ihr Schweizer Messer aus der Handtasche
und begann das Weißbrot zu schneiden. „Das sind Menschen, die eines Tages vom
Glück verlassen worden sind. Irgendwann ist irgendetwas schief gelaufen. Jeder
dieser Penner könnte Ihnen eine andere unheilvolle Geschichte erzählen, Herr
Stevens. Das sind arme Geschöpfe, die nichts mehr vom Leben erwarten. Nicht
jeder lebt auf der Sonnenseite!“
Stevens sah sie von der Seite an. Seine Augen strahlten eine
erstaunliche Ernsthaftigkeit und Ehrlichkeit
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