Ein Mädchen aus Torusk
njet«, schrie der Bremser und warf hilflos die Hände hoch. »Mensch, ich tu dir ja nichts!«
»Bist du Deutscher?« zischte ihn Martin Abels an.
»Ja, ja. Aus Bückeburg.«
»Um Gottes willen, Mann! Fast hätte ich dich umgebracht. Los, mach die Tür zu.«
Der Bremser kletterte keuchend auf die kleine, schmale Holzbank im Hintergrund des Häuschens und lehnte sich an die Wand.
»Junge! Das war knapp! Bist du verrückt? Einfach mit'm Dolch –«
Abels setzte sich neben ihn. Auch er zitterte noch am ganzen Leib und spürte, wie ihm der Angstschweiß über den Körper lief.
»Ich hätte dich umgebracht, wenn du ein Russe gewesen wärst«, sagte er leise. »Ich hätte zum erstenmal in meinem Leben mit der eigenen Hand einen Menschen getötet. Es waren höllische Sekunden, glaub es mir.« Er steckte den mongolischen Dolch in den Gürtel zurück und sah den Bremser an. »Wie kommst du denn hierher? Und wieso bist du hier bei der Bahn?«
»Mensch! Das ist eine lange Geschichte.« Der Bremser zerrte eine Brieftasche aus seiner Steppjacke und klappte sie auf. »Ich heiße Stepan Michailowitsch Felkanow –«
»Aus Bückeburg –«
»Quatsch. Da hieß ich Stefan Feldmann. Aber das ist lange her, Kumpel! Das habe ich völlig vergessen! Ich heiße jetzt Felkanow! Hier, sieh dir das an!«
Er holte ein Bild aus der Brieftasche und hielt es Abels unter die Augen. Er knipste die kleine Batterielampe an, die er an einem Band vor der Brust trug, und beleuchtete das Foto. Der Güterzug rangierte weiter, Eisen knallte wieder auf Eisen, die automatischen Kupplungen rasteten ein.
»Das ist sie, meine Frau Njuschka«, sagte Felkanow stolz. »Und das da ist mein Ältester, der German. Die beiden Mädchen sind Zwillinge und heißen Nadjeschda und Sophie, wie ihre Großmütter. Und das da sind Piotr, Ludmilla und Matwej.«
Martin Abels nickte. Er sah in acht strahlende Gesichter, in acht sibirische Augenpaare. Felkanow hatte auf dem Foto seine Sonntagsuniform als Bremser an.
»Wie ist das denn möglich?« fragte er und gab das Bild an Felkanow zurück. »Wie bist du denn in Sibirien geblieben? Du warst doch Plenny wie ich, nehme ich an.«
»Klar.« Felkanow steckte die Brieftasche wieder weg. »Aber das zu klären, habe ich jetzt keine Zeit. Bei der neunten Weiche muß ich abspringen. Dann fährt der Zug auf die freie Strecke.« Er sprang auf und trat an die Tür. Eiskalter Wind strömte in das enge Bremserhäuschen. »Noch zwei Minuten, Kumpel.« Er drehte sich zu Abels um. »Ich will nicht fragen, was du hier machst – ich habe nichts gesehen –«
»Ich suche ein Mädchen, oben in Torusk.«
»Ein Mädchen?« Felkanow grinste. »Das kannste meiner Urgroßmutter erzählen! Also, ich habe nichts gesehen! Du willst nach Tygdinsk?«
»Ja.«
»Da wohne ich. Pendle hin und her. Tschita - Tygdinsk. Wenn du mich besuchen willst: Ich wohne in der Sadowaja 24. Im Süden von Tygdinsk.« Er stieß die Tür auf, die ganze eisige Nachtkälte fiel über die beiden Männer her. »Wie soll ich dich nennen?«
»Ich heiße hier Nikolai Stepanowitsch Arkadjef.«
»Ein schöner Name, Genosse Stepanowitsch!« Felkanow grinste. »Viel Glück … was immer du auch bei uns machen willst.« Er zögerte, kam zurück und umarmte Abels. Wie zwei Russen küßten sie sich auf beide Wangen und nahmen Abschied. »Gott mit dir, Nikolai Stepanowitsch.«
»Gott auch mit dir, Stepan Michailowitsch.«
»Die Weiche.« Felkanow duckte sich und sprang dann hinaus in die Dunkelheit, in den Schnee. Gleichzeitig schlug die Tür wieder zu. Abels war wieder allein.
Mit dem Absprung vom Trittbrett des Bremserhäuschens fiel von dem ehemaligen Gefreiten Stefan Feldmann auch wieder die letzte Erinnerung an Deutschland ab. Er war wieder der harmlose Bremser mit Namen Felkanow und Vater von sechs unmündigen Kindern, er stand im Schnee, auf Tschitas Rangierplatz, pfiff noch einmal langgezogen, was soviel bedeutete wie: Alles in Ordnung, Brüderchen Lokomotivführer! und entfernte sich dann durch die Dunkelheit und zwischen den Holzstapeln.
Martin Abels starrte durch das freigehauchte Loch in der kleinen vereisten Scheibe seines Bremserhäuschens. Er sah, wie sich der Mann entfernte, und steckte seinen Dolch wieder in den Gürtel der Hose unter die Steppjacke.
Nun fuhr der Zug wirklich ab, machte einen Bogen, umkreiste den Wasserturm, der wie eine lange Faust in den Nachthimmel stieß, ratterte auf einem fernen Gleis am Bahnhof Tschitas vorbei und tauchte dann
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