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Ein Mädchen aus Torusk

Ein Mädchen aus Torusk

Titel: Ein Mädchen aus Torusk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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unter im Schneedunst der freien Strecke.
    Es wurde eine langweilige Fahrt. Die 900 Werst zwischen Tschita und Tygdinsk dauerten vier Tage. Das war nicht die Schuld des Zuges, er tat seine Schuldigkeit, so gut er es konnte. Aber die Natur war feindlich, sie war außer Rand und Band und entfesselte einen Tag und eine Nacht lang einen Schneesturm, wie ihn selbst Abels in den schlimmsten sibirischen Wintern nicht erlebt hatte. Es war überhaupt nichts mehr zu sehen, die Welt war nur noch weiß und heulte, und durch dieses Inferno bummelte die lange Schlange des Holzzuges, unentwegt, keuchend und knirschend. Es gehörte Mut dazu, weiterzufahren und nicht einfach stehenzubleiben und zu sagen: »Genossen! Hier ist Schluß! Jetzt warten wir, bis das Schlimmste vorbei ist. Wir haben noch Dampf im Kessel, und geht die Kohle aus … hinter uns sind ja hundert Waggons mit Holz. Das brennt auch!« Aber nein, so dachte man nicht. Es sind schon rechte Helden, diese Lokomotivführer von Tschita nach Tygdinsk! Sie bissen die Zähne zusammen, zogen die Pelzmützen bis zu den Nasen, fluchten, tranken einen und rannten gegen den Schnee an.
    Martin Abels hatte sich in seinem Bremserhäuschen eingerichtet. Er aß das harte Brot, das er in kleinen Klumpen mit dem Dolch absplittern mußte, oder den ranzigen Speck, den ihm Burkja noch zugesteckt hatte, weichte alles in Wodka auf oder brockte es in eine Blechbüchse, die er halb mit Schnee füllte und mit der Wärme seiner Hände auftaute. So bekam er eine Wasser-Wodka-Brotsuppe, die ihm zwar keine Kraft gab, ihn aber auch nicht verhungern ließ.
    Solange der Zug fuhr, war er sicher in seinem Versteck. Nur einmal noch wurde es kritisch. Das war in Kuenga, am zweiten Tag. Da hielt der Zug plötzlich, und genau vor einer angetretenen Kompanie Rotarmisten, die frierend herumstand, in weißen Tarnuniformen, die Skier geschultert.
    Martin Abels klebte an seinem freigehauchten Loch in der vereisten Scheibe und beobachtete, wie die Kompanie nach hinten marschierte. Es krachte wieder ein paarmal, neue Wagen, dieses Mal alte, klapprige Personenwaggons, wurden angekoppelt, die Soldaten verschwanden in den Abteilen, ein paar Bahnarbeiter rannten von Wagen zu Wagen und hielten Lötlampen an die vereisten Bremsen.
    Und dann war wieder die Einsamkeit zu Gast in der Weite des Landes. Vereiste Felsen, im Schnee erstickte Wälder, und mitten hindurch der Schienenstrang. Ein paar Blockhütten mit Streckenwärtern. Ab und zu ein Dorf, das man nur an dem Rauch über dem Schnee erkannte. Und immer das Gefühl, wie rettungslos verloren man sein würde, wenn man hier aussteigen und zu Fuß weiterziehen mußte.
    Vier Tage und Nächte in einem engen Bremserhäuschen, bei über zwanzig Grad Kälte, bei kaltem Essen und ohne mehr Bewegung, als die Arme gegen den Körper zu schlagen oder mit den Füßen aufzustampfen und auf der Stelle zu tanzen, und dann 900 Werst nach Norden – das ist schon etwas, Freunde! Und noch eines erkannte Abels bereits am zweiten Tag: Mit zweitausend Rubel in der Tasche hätte er verrecken können, denn Geld wärmt nicht, wenn man in einem Bremserhäuschen sitzt. Aber die Flasche Wodka, die Jurij und Victor – diese Halunken, der Teufel drehe ihnen die dicken Hälse um! – ihm zu den Kleidern gelegt hatten, war jetzt tausend Rubelchen wert. Nichts Besseres gibt es gegen die Kälte als ein Schlückchen Wodka. Ob Zar, Chruschtschow oder der Muschik Labkowitz – wenn man friert, greift man zur Flasche, und mit jedem Zucken der schluckenden Kehle rinnt wohlige Wärme in den Körper.
    Gott segne den Wodka, Brüderchen.
    Auch Abels hielt es so. Jede Stunde nahm er einen kleinen Schluck, und der reichte eine gewisse Zeit. Wenn's gar zu eisig wurde, setzte er die Flasche wieder an und wärmte sich auf. Dabei achtete er genau auf die Dosierung. Die Flasche mußte reichen bis Tygdinsk. Was dann kam, würde sich zeigen.
    Noch einmal hielt der Zug, auf einem Güterplatz, der sich stolz Amasar nannte und aus nichts anderem bestand als aus ein paar Holzhütten, drei Steinhäusern, in denen die Verwaltung des Güterbahnhofes wohnte, und einem Lager behauener Steine. Der Grund des Anhaltens waren die Rotarmisten. Warum, das sah man sofort, als der Zug vor den drei Steinhäusern stehenblieb. An die fünfzig Soldaten rannten über die Gleise, durch den Schnee und über die Steinhaufen zu den Mauern der drei Häuser, erkannten, daß sie hier im Windschatten saßen, zogen die Hosen herunter, hockten sich hin

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