Ein Mädchen aus Torusk
empfangen sollte. Er trat vor, hob das Gesicht und küßte Vater Matwej auf beide Wangen.
Das Geheimnis dieser seltsamen Männer mit ihren Frauen und Kindern, die mitten im Sumpf und Urwald lebten und nur von Gott redeten, erfuhr Abels am Abend, als er in einer der Hütten ein Bett erhielt und mit dem Jäger, der Torusk und die Turganows kannte, ein Zimmer teilte.
Schon vor dem Großen Vaterländischen Krieg gegen die Deutschen, ja, schon zu Beginn des Stalinismus in Rußland, zogen sich strenggläubige Gruppen in die unwegsamen Wälder der Taiga zurück, um hier, fern aller Zivilisation, dem Zugriff der Partei und der bolschewistischen Ideologie entzogen, ein freies, ein im wahrsten Sinne des Wortes vogelfreies Leben zu führen. Sie zahlten keine Steuern, sie stellten keine Soldaten, sie erfüllten kein Plansoll, sie kümmerten sich nicht um Paßvorschriften oder Bürgerpflichten; sie lebten nur dem großen Ziel, Gott gefällig zu sein, suchten die Schätze des Himmels im Gebet und gründeten in der Taiga eine Kolonie, von der niemand etwas wußte und die nie in einer Zeitung erwähnt wurde. Man verschwieg sie, weil es nach Ansicht der Regierung in Moskau eine Pestbeule am Körper der Volksrepublik war.
Jahrelang versuchte man, die Schlupfwinkel der Sekte zu entdecken. Den Geologen und Bautrupps, den Holzschlagkolonnen und Forschern gab man den Auftrag, auf diese Männer und Frauen zu achten und sofort dem nächsten Kommissariat Meldung zu machen, wenn man in den unendlichen Wäldern auf verwilderte, menschenähnliche Wesen stieß. Über zwanzig Jahre lang durchkämmte man Sümpfe und Dschungel, fing bärtige Männer wie Luchse, verhörte und verprügelte sie, steckte sie in die Keller der NKWD und unterzog sie einer Gehirnwäsche. Meistens stellte sich heraus, daß die Gefangenen harmlose Jäger waren. Nur zehnmal in den zwanzig Jahren griff man wirkliche Mitglieder dieser Sekte auf, als sie im Begriff waren, Nachschub für ihre Dörfer zu holen – Verwandte, Bekannte, Freunde, denen man vorpredigte, wie adlergleich das Dasein in den Wäldern sei und wie nahe man Gott sei und dem ewigen Leben. Worte, die einem Russen ins Herz gehen, in dieses große, herrliche, gläubige Herz, in denen die Gesänge aus den Kathedralen widerklingen und die baßtiefen Chöre der Popen die Seele umkleiden wie ein purpurner Mantel.
Aber auch diese zehn sprachen nicht. Man zerschlug ihre Körper, man brach ihnen die Knochen, man stellte sie mit nackten Füßen auf Metallböden, durch die man elektrische Stromstöße jagte, man bespritzte sie mit Wasser und stellte sie so lange in die klirrende Kälte, bis sie zu Eisblöcken gefroren waren; ja, man griff zu asiatischen Methoden und schob kleine Holzstücke unter die Fingernägel, zündete sie an und ließ sie abbrennen. Es half alles nichts. Die Verhörten schrien zwar unter den Foltern, sie riefen Gott um Hilfe an, und sie starben wie die Christen in der Arena des Kaisers Nero, heroisch, betend und – ohne Verrat. Die heimlichen Dörfer der Sekten wurden nie bekannt. Sie sind Geheimnis bis zum heutigen Tag und werden Geheimnis bleiben; vielleicht eine der letzten Inseln wahren Glaubens in unserer von Gott sich lösenden, materialistischen Welt.
Martin Abels hörte diese Erzählungen des Jägers Dimitrij mit atemlosem Staunen. »Was wird mit den beiden Fliegern geschehen?« fragte er danach.
»Man wird sie hinrichten, Bruder.« Es war so selbstverständlich, daß Dimitrijs Stimme völlig gleichgültig klang.
»Aber ihre Religion …« Abels starrte gegen die Balkendecke. Gras und Moos wuchsen zwischen den Ritzen, der gemauerte Ofen in der Ecke strahlte glühende Wärme aus. Draußen war die Temperatur auf minus 30 Grad gesunken.
»Es geht um ihre Entdeckung.« Dimitrij lachte leise. »Auch Väterchen Matwej ist kein Heiliger, wenngleich er so aussieht. Um Gott zu dienen, muß man sich schützen vor dem Teufel. Für Matwej sind die Flieger Teufelchen.«
Daß es sich tatsächlich so verhielt, erfuhr Abels am nächsten Morgen. Die ganze Sekte war in der Kirche versammelt. Wer keinen Platz mehr bekommen hatte, stand draußen im festgestampften Schnee, vermummt in Fellen und Wattemänteln. Vor allem waren es Frauen und Kinder; die Männer saßen in der Kirche, getreu dem patriarchalischen Gedanken, daß der Mann Gottes Ebenbild sei und die Frau nur ein Stück aus seinem Rippenbogen.
Väterchen Matwej las erst eine Messe, ehe der politische Teil kam. Auf zwei Bahren wurden die
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