Ein Mädchen aus Torusk
ihnen und hielt Abels' massierende Hand fest. Er war ein junger Soldat, mit blonden Haaren und dem Gesicht eines Lausbuben. Der andere, älter als er, war breitgesichtig und grober.
»Ich gebe euch Tee und Essen für drei Tage mit«, sagte Abels und drückte dem Jungen einen kleinen Fellsack zwischen die Knie. »Mehr kann ich nicht tun. Wenn ihr am Ufer der Lena entlanggeht, kommt ihr aus dem Dschungel hinaus. Jetzt ist der Sumpf vereist, er trägt euch.«
Der Junge nickte. Er winkte schwach, als Abels zur Lena zurücklief, warf dann den Sack mit der Verpflegung weiter in den Wald hinein, packte seinen noch schwächeren Kameraden und zog ihn kriechend in die Dunkelheit der Bäume.
Am Morgen, Abels schlief noch, kam Dimitrij in die Hütte zurück. Er hatte sich im Magazin Speck geholt, um ihn als Frühstück zu braten.
»Nikolai!« rief er und schüttelte Abels. »Nikolai, sie sind weg!«
»Wer?« fragte Abels schlaftrunken.
»Die beiden Piloten! Väterchen Matwej wird einen Dankgottesdienst veranstalten. In der Nacht haben Wölfe oder Tiger sie vom Eis geholt, anders ist es nicht möglich.«
»Es waren Wölfe«, sagte Abels und drehte das Gesicht zur Wand. »Einsame Wölfe.«
Dimitrij hörte es nicht mehr. Er verhandelte mit Susska, der Hausfrau, über die leihweise Überlassung einer Bratpfanne.
*
Drei Wochen blieben sie im Dorf der Sekte, als Gäste Vater Matwejs. Es war ein seltsames Leben. Morgens, mittags und abends wurde gebetet. Dazwischen zogen die Männer auf das Eis der Lena, hackten Löcher in die dicke Eisdecke und fischten mit Netzen oder Angeln. Das war die Zusatzverpflegung. Normales Essen bestand aus Hirsebrei, gesäuertem Kohl, Mehlsuppen mit getrockneter Fischeinlage, Dörrobst mit Grieß und Salzfleisch mit Bohnen.
Niemand im Dorf besaß einen eigenen Vorrat. Alles, was man erntete, war Gemeingut, lagerte in Bunkern und Mieten, Magazinen und Ställen und wurde dreimal wöchentlich ausgegeben, genau nach Kopfzahl. Vater Matwej und vier andere Brüder führten Buch und verteilten. In langer Schlange stand man an, mit Körben und Beuteln, Kisten und Taschen und holte sich seinen Anteil, den Gott wachsen und gedeihen ließ, auf daß wir leben, wie Matwej sagte. So gab es nie Streit, nie Neid, nie Armut des einen und Völlerei des anderen, nie Diebstahl und Mord, nie Gehässigkeit oder Mißgunst … sie waren alle gleich arm oder reich, wie das Jahr eben gewesen war mit Aussaat und Ernte und nach eigenem Fleiß. Jeder wußte, was der andere hatte, denn er hatte genausoviel wie man selbst. Und so waren sie alle zufrieden in diesem Dorf an der Lena, lebten in Frieden und waren wahrhaft Brüder und Schwestern. Vater Matwej nannte es ›Das Paradies‹. Und er hatte nicht ganz unrecht damit, soweit man nicht weiter denkt als bis an die Lena und an den Wald.
Abels zog überall mit dorthin, wo die Sekte arbeitete. Er fällte Bäume und baute neue Häuser, er fischte im Eisloch und suchte nach eßbarem Wild. Einmal sagte Vater Matwej zu ihm: »Bruder Minja, du bist ein guter Mensch. Ich wäre glücklich, wenn du bei uns bliebest.« Und da er wußte, wohin Nikolai wollte, fügte er hinzu: »Hol deine Anuschka und komm zurück zu uns. Gründe hier ein neues Leben. Du kommst von draußen aus der Welt der Sünde … gesteh, daß hier der wahre Friede ist.«
Abels gestand es, was blieb ihm anderes übrig? Aber Vater Matwej spürte, daß er log. Doch er ließ es sich nicht anmerken. Er betete nur für Nikolai Stepanowitsch in der Kirche und bat Gott, mit ihm eine neue Seele in die Gemeinschaft zu führen.
Zu Beginn der vierten Woche, in einer undurchsichtigen Neumondnacht, wurden die Außenposten der Sekte, die bewaffneten, bärtigen Männer in den Erdbunkern, von sowjetischen Kommandotrupps überwältigt und unschädlich gemacht. Nicht ein Schuß fiel dabei, so schnell und aus dem Dunkel stürzend fielen die Soldaten über die Wachen her. Ein Stöhnen, ein Schrei zerflatterten in der Nacht. Sie drangen nicht bis zum Dorf, das ahnungslos in tiefem Schlaf lag, vertrauend auf die Wachen, auf die Einsamkeit, den Frost, den Sumpf, die Lena und auf Gott.
Mit militärischer Präzision, lautlos, unter Führung zweier Leutnants, huschten die Rotarmisten von Haus zu Haus und vollzogen ihren Auftrag mit den Kolben der Maschinenpistolen. Es war ein leichtes Arbeiten; die Köpfe lagen auf den Öfen oder auf den Bettstellen wehrlos und entspannt vor ihnen, wie Rüben, die man nebeneinanderlegt, um mit einem
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