Ein Mann - Kein Wort
Verzicht schon schwieriger und erfordert mehr Mut.
Darüber hinaus scheint mir jedoch noch ein dritter – und entscheidender – Unterschied zu bestehen: Die meisten Frauen pflegen, sofern es ihre Zeit erlaubt, eine oder mehrere engere Freundschaften mit anderen Frauen, mit denen sie auch ihr seelisches Erleben teilen. Im – oft auch nur per Telefon geführten – Gespräch mit diesen Frauen können sie einen Teil ihrer Frustration oder ihrer Probleme aussprechen und damit auch »abladen« und bearbeiten. Die Freundin bietet im besten Fall Resonanz, einen anderen Blickwinkel, Tipps und Ratschläge oder auch einfach nur Verständnis, Trost und Aufmunterung. Dies alles wirkt in hohem Maß entlastend und »reinigend«, aber auch regenerierend und kraftspendend.
6. Das Vorbild der Eltern
»Denn niemand glaube, die ersten Eindrücke der Jugend
überwinden zu können!«
J OHANN W OLFGANG VON G OETHE
Väter und Söhne
Die Familie ist der Ursprungsort, an dem wir lernen, wie »man« sich als Junge oder Mädchen, als Mann oder Frau verhält. Da die Väter oft nicht nur räumlich, sondern aufgrund ihrer Berufstätigkeit auch mental und emotional häufig abwesend oder erschöpft sind, steht vielen Jungen – selbst wenn die Familie intakt ist – kein männliches »emotionales Identifikationsangebot« zur Verfügung – sprich: kein Mann, von dem sie lernen können, wie »Mann« mit Gefühlen und Bedürfnissen umgeht. Sie erleben ihre Väter vielfach nur in der einseitig starken Rolle des Mannes, der viel tut, aber wenig redet und wenig Gefühle zeigt.
Ein Beispiel – ein Mann erzählt: »Ich habe gute Freundschaften mit Männern, aber es ist ganz anders als mit Frauen. Ich kann einen ganzen Nachmittag mit einem Freund in der Garage sitzen und am Auto herumbasteln, ohne dass wir mehr als zwei Worte wechseln, aber wir fühlen uns einander nahe. Oder wenn wir angeln gehen …« – Darauf antwortet ein anderer Mann: »Ich bin anderer Meinung, also ich bin wirklich ganz anderer Meinung. Als kleiner Junge habe ich jeden Samstag mit meinem Vater in der Garage verbracht und an der Familienkutsche herumgebastelt, und ich weiß
nichts
von meinem Vater. Überhaupt nichts, und
es kotzt mich an!
Diese Art von Freundschaft kann mir gestohlen bleiben! Es ist ein verdammter Schwachsinn, den ganzen Tag in einem Boot zu sitzen und zu angeln und kein einziges Wort zu sagen. Wir Männer müssen miteinander reden!« 35
Doch abgesehen davon, dass zwischen Männern meist nicht allzu viel geredet wird, schon gar nicht über Gefühle, stellt sich die Frage: Wie reagiert ein Vater auf Gefühlsäußerungen
seines Sohnes
, beispielsweise auf Tränenausbrüche? Sagt er sofort: »Ein Junge weint nicht«, oder gesteht er ihm Tränen zu und tröstet ihn? Und: Gesteht ein Vater
sich selbst
Tränen zu?
Anlässlich einer Gala zum 70. Geburtstag des Schlagersängers Tony Marshall im Januar 2008 erzählte einer seiner Söhne auf der Bühne: »Als mein Vater Anfang der 70er-Jahre erfuhr, dass er von dem Schlagerwettbewerb, auf den er sich intensiv vorbereitet hatte, disqualifiziert worden war, habe ich meinen Vater zum ersten Mal weinen gesehen.« Dieser Sohn dürfte damals schon im Schulalter gewesen sein. Ich neige dazu, zu sagen: Er hatte noch Glück – wenigstens
hat
er es erleben dürfen, dass sein Vater einmal tief traurig war und diese Trauer auch offen zeigte. 36 Viele Kinder erleben dies nie – und gewiss nicht, weil ihre Väter nie traurig gewesen wären, sondern:
weil ihre Väter wenig Gefühle zeigten und schon gar nicht darüber sprachen
. Und
wenn
sie einmal Emotionen zeigten, dann waren es eher »harte« Gefühle wie Ärger, Aggressivität, Wut, Jähzorn, Rachedurst oder, oft am schlimmsten: Verachtung und Ablehnung bis hin zur Ächtung anderer Menschen.
Was lernten diese Söhne, die sich ja am Vorbild des Vaters, ob sie wollen oder nicht, lange Zeit orientieren müssen? Sie lernten: Diese »harten« Gefühle zu zeigen und auszuleben ist erlaubt – doch die anderen, die »weichen« Gefühle, sind tabu, beispielsweise Zärtlichkeit, Bewunderung, Anhänglichkeit, aber auch Angst, Enttäuschung, Hilflosigkeit, Ohnmacht, Unsicherheit, Verletztheit, Wunsch nach Nähe und Anerkennung, nicht zuletzt Trauer und Schmerz.
Es ist eine unbestrittene und höchst erfreuliche Tatsache, dass sich viele Väter heute bewusst darum bemühen, ihren Kindern auch auf der emotionalen Ebene nahe zu sein, sich ihnen gegenüber einfühlsam zu verhalten und
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