Ein Mann - Kein Wort
dazugehört, und das ist vermutlich der weitaus größte Teil unserer Gesprächsinhalte, lässt mehrere Standpunkte, Auffassungen und Einschätzungen zu. Beispielsweise die Frage, ob der Frühling schöner als der Sommer ist. Oder ob die Umstellung auf die Sommerzeit für die Menschen hierzulande ein Vor- oder ein Nachteil ist. Darüber lässt sich – auch mit Argumenten – trefflich streiten, und wer meint, dass es dazu eine abschließend richtige oder falsche Antwort gibt, der liegt einfach falsch. Denn dazu müsste man sämtliche Menschen hierzulande befragen, was schlechterdings nicht möglich ist. Außerdem ist es nicht möglich, eindeutig zu definieren, was ein Vorteil ist und was ein Nachteil, denn was der eine als gravierenden Nachteil empfindet, wird vom anderen als enormer Vorteil angesehen.
Doch auch im Bereich persönlicher Einschätzungen und Gefühle, Erfahrungen und Eindrücke gibt es kein »Richtig« und »Falsch«. Allerdings scheint ein großer Teil der erwachsenen Menschen diese Tatsache zeit ihres Lebens nicht wirklich zu begreifen!
Nur so ist die Unmenge an erbitterten Diskussionen und verbalen Konflikten, an erregten Auseinandersetzungen und tiefen Zerwürfnissen – oft wegen Banalitäten – zwischen Bekannten, Kollegen, Nachbarn, Mitarbeitern, Freunden, Familienmitgliedern und Partnern zu erklären.
Sie alle lassen sich auf folgende Überzeugungen zurückführen, die ich hier in sehr vereinfachter Form wiedergeben möchte:
»Entweder hast du recht oder habe ich recht.«
»Entweder ist das, was ich sage, die Wahrheit, oder das, was du sagst.«
»Wenn ich recht habe, muss ich dir nachweisen, dass du nicht recht hast.«
»Wenn wir unterschiedlicher Meinung sind, müssen wir so lange diskutieren, bis sich herausstellt, welche Meinung die richtige ist.«
»Es kann nicht sein, dass bei verschiedenen Auffassungen oder Meinungen jeder aus seiner subjektiven Sicht recht haben kann.«
»Es kann nicht sein, dass eine Sache von verschiedenen Seiten gesehen werden kann, ohne dass jemand letztlich entscheiden kann, welches die ›richtige‹ ist.«
All diese Annahmen sind schlichtweg falsch
.
Selbst die exakten Naturwissenschaften müssen inzwischen einräumen, dass in bestimmten Bereichen unserer Wirklichkeit (vor allem im Makro- und Mikrokosmos) keine Eindeutigkeiten mehr anzutreffen und zu beobachten sind. Ein berühmtes, fast schon klassischzu nennendes Beispiel ist das Licht. Die Physiker rätselten lange: Ist das Licht eine Welle, oder besteht es aus Teilchen? Die Antwort lautet nach heutigem Wissensstand: »Sowohl – als auch!« Entscheidend ist, mit welchen Mitteln man das Licht beobachtet, man kann auch sagen: mit welchen Annahmen und Erwartungen man an die Erforschung des Lichts herangeht. Mit anderen Worten:
Das Ergebnis hängt davon ab, wie man untersucht und was man herausfinden will!
Doch letztlich eindeutig definieren, was das Licht
ist
, können wir nicht. Dies ist das – zumindest vorläufige – Ergebnis mehr als hundertjähriger intensiver Forschung mit ausgefeiltesten und modernsten naturwissenschaftlichen Methoden!
Wie viel mehr können wir davon ausgehen, dass solche Eindeutigkeiten in unseren vertrauensvollen zwischenmenschlichen Gesprächen fehlen! Hier können für uns als nachdenklich-selbstkritische Gesprächsteilnehmer nur folgende Basisüberzeugungen gelten, die auch das Fundament all unserer Beziehungen sein sollten:
»Du hast das Recht, die Dinge auf deine Weise zu sehen, so wie ich das Recht habe, sie auf meine Weise zu sehen. Es geht nicht darum, wer von uns beiden (mehr)
recht hat
!«
»Mir ist klar, dass wir alles, was wir erleben und wahrnehmen, von verschiedenen Seiten und mit ganz unterschiedlichen Augen sehen können und dass niemand einem anderen Menschen vorschreiben kann,
wie
er etwas zu sehen hat. Denn niemand ist im Besitz der Wahrheit.«
»Ich will deine Wahrnehmung, Emotion oder Erfahrung auch dann respektieren, wenn sie von meiner eigenen deutlich abweicht oder ihr gar entgegengesetzt ist. Ich will sie auch respektieren, wenn ich sie nicht verstehen kann. Denn es steht mir nicht zu, darüber zu urteilen, wer von uns beiden der Wahrheit näherkommt.«
»Ich will es aushalten, dass du manches – auch an meiner Person – auf eine Weise siehst, die mich und meine Sichtweise infrage stellt. Du hast das Recht, mich mit deinen Augen zusehen. Ich will lernen, dass darin auch für mich eine große Bereicherung enthalten sein
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