Ein Mann von Ehre
gewissen Umständen …“
Rosalyn hatte den Eindruck, dass er sie wieder küssen wollte, und hielt klopfenden Herzens den Atem an.
Nie zuvor hatte sie sich gewünscht, von einem Mann geküsst zu werden, doch nun wurde sie sich erschüttert und zugleich bewusst, dass sie sich danach sehnte, Lord Marlowe möge sie eng an sich drücken, zärtlich zu ihr sein und ihr einen Kuss geben.
Sie hatte Verlangen nach ihm und öffnete erwartungsvoll die Lippen.
„Sehen Sie mich nicht so hingebungsvoll an“, äußerte er harsch. Er war überzeugt, dass sie sehr leidenschaftlich sein konnte, doch ihr augenblickliches Verhalten überraschte ihn etwas. „Sie ahnen nicht, Miss Eastleigh, in welche Gefahr Sie sich in diesem Moment zu begeben gewillt sind. Wenn in Indien eine Frau einen Mann so auffordernd anschaut, dann weiß er genau, was er zu tun hat. Und ich war viel zu lange dort, um noch Rücksicht auf gewisse Sitten nehmen zu wollen.“
Rosalyn spürte die Röte in die Wangen steigen und überlegte bestürzt, was Seine Lordschaft jetzt von ihr denken mochte.
„Sie müssen mich nicht darauf hinweisen, dass Sie nicht willens sind, gewisse Gepflogenheiten zu respektieren, Mylord!“, erwiderte sie spitz. „Wenn Sie mich loslassen, kann ich endlich nach Haus gehen!“
Die unverkennbare Verärgerung über den Hinweis, ihr Betragen sei unschicklich, und der Umstand, dass sie das nicht geleugnet hatte, nahmen Damian die Anspannung. Er lachte auf und ließ Miss Eastleigh los.
„Entschuldigen Sie, Madam. Normalerweise benehme ich mich nicht so ungehörig. Aber Sie haben mich in Versuchung geführt, Sie zu küssen. Sie müssen also nicht verlegen sein oder Gewissensbisse haben. Wenn jemand sich Vorwürfe machen muss, dann bin ich derjenige. Also haben Sie bitte Nachsicht mit mir.“
„Ich habe Ihnen nichts zu verzeihen, Sir“, erwiderte Rosalyn ruhig. „Mich trifft ebenso viel Schuld wie Sie. Gewiss halten Sie mich jetzt für schamlos.“
Er lächelte, und sie merkte, dass sie ihm nicht länger gram sein konnte. Eine innere Stimme riet ihr, die Beziehung zu ihm jetzt sofort abzubrechen, da sie sich sonst auf sehr schwankenden Grund begäbe und die Folgen ihrer Torheit zu tragen hätte. Im Herzen wusste sie jedoch, dass sie ihr nicht gehorchen durfte. Es kam ihr vor, als habe sie ihr Leben lang auf diesen Moment und diesen Mann gewartet.
„Sarah ist für morgen von Ihrem Zögling zum Tee eingeladen worden“, äußerte sie beiläufig. „Ich werde sie gegen drei Uhr mit unserem Kutscher und ihrer Gouvernante zu Ihnen schicken. Haben Sie etwas dagegen, wenn die Dienstboten auf sie warten?“
„Nein, natürlich nicht. Aber warum begleiten Sie das Mädchen nicht?“
Rosalyn schüttelte den Kopf. „Leider geht das nicht, aber wir beide begegnen uns sicher bald wieder, Sir. Vielleicht schon morgen in der Kirche. Und nach der Ankunft meines Bruders müssen Sie einmal zum Abendessen zu uns kommen. Auf Wiedersehen, Mylord.“
„Auf Wiedersehen, Miss Eastleigh.“ Sie wandte sich ab und strebte auf Lyston House zu. Er schaute ihr hinterher und fand, sie habe sehr viel mehr verdient, als er ihr geben konnte. Ursprünglich war er davon ausgegangen, sich in den nächsten Wochen die Zeit durch einen kleinen Flirt mit ihr zu vertreiben, doch nun stellte er überrascht fest, dass schon nach so kurzer Bekanntschaft seine Gefühle für sie tieferer Natur waren.
Rosalyn stand am Fenster, schaute in den Garten und hörte Sarah hell lachen. Sie staunte über die Veränderung, die in den letzten sechs Tagen mit dem Mädchen vorgegangen war. Lord Marlowes Zögling und Sarah waren fast unzertrennlich geworden und täglich stundenlang zusammen. Zweifellos tat der Umgang mit dem Jungen ihr gut. Man musste sie nur ansehen, um sogleich zu wissen, dass sie glücklich war.
Rosalyn seufzte. Wie gut die Kinder es hatten! Sie mussten nur an ihr Vergnügen denken. Sie hingegen litt ein wenig darunter, dass sie den Earl of Marlowe seit dem Kirchenbesuch nicht mehr gesehen hatte. Im Anschluss an den Gottesdienst hatte sie ihn mit einigen Nachbarn bekannt gemacht, darunter Sir Matthew und Lady Sheldon mit zweien ihrer fünf ziemlich hübschen Töchtern. Der Baronet hatte den neuen Nachbarn umgehend zum Dinner eingeladen. Auch Rosalyn hatte überlegt, ob sie Lord Marlowe zu sich bitten solle, sich dann jedoch entschieden, es nicht zu tun.
Plötzlich verhüllte eine Wolke die Sonne, und Rosalyn bemerkte, dass der Himmel sich mehr und mehr bezogen
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