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Ein Mann von Welt

Ein Mann von Welt

Titel: Ein Mann von Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antoine Wilson
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vorzustellen, was für neue Ideen Paul gerade hatte, oder die Art von grundlegenden Fragen, die sich aus seinem fortgeschrittenen Denken ergeben haben könnten. Ich versuchte, aus dem Rhythmus seiner Schritte und dem Balken zu schließen, welche Richtung sein Denken gerade eingeschlagen hatte, es erinnerte mich daran, wie es war, während der Busfahrt die Stromleitungen am Straßenrand anzuschauen, außer dass mich das rhythmische Muster jetzt nicht schläfrig machte, sondern mich aufmerksamer werden ließ, ich versuchte, Zugang zu dem zu bekommen, was Maria immer die höheren Sphären nannte, wo unsere Seelen nicht getrennt waren wie hier auf der Erde – und in dem Moment
ging in meinem Inneren ein Alarm los, irgendwas stimmte nicht, der Rhythmus stimmte nicht mehr. Da dumm, da dumm dumm, da dumm, da dumm dumm dumm. Ein Alarm ging in mir los und mein ganzer Körper versteifte sich, das war automatisch, es gab kein Zögern, es passierte in einem einzigen Augenblick, mein Körper versteifte sich, und Tante Liz hörte auf zu reden. Ich weiß nicht, ob sie darauf reagierte, wie sich mein Körper versteifte, oder ob sie in ihrem Inneren auch einen Alarm gespürt hatte, wie gesagt passierte das alles in einem einzigen Augenblick. Es gab einen enormen Donnerschlag in der Küche, es klang, als käme ein Bagger durch die Wand. Dann ein Prasseln wie Hagel auf dem Linoleum. Wir rannten hinein, oder vielmehr rannte ich hinein und Tante Liz folgte mir. Wir schauten hoch, wir konnten gar nicht anders, als hochzuschauen, der Blick wurde von selbst nach oben gezogen, dahin, wo zuvor eine glatte Decke gewesen war, wo wir jetzt Gipsputz sahen, der mit einem Netz von Rissen durchzogen war, und in der Mitte des Ganzen ein Loch, aus dem ein Brett heraushing, dessen Ende mit Socken umwickelt war, es zuckte und schaukelte wie ein kaputter Regenwischer. Das Einzige, was das Brett davon abhielt, auf den Boden zu fallen, war ein Arm, der Arm eines Mannes, der dem Brett durch das Loch in der Decke gefolgt war. Ich bin ein langsamer Aufnehmer, ich habe davon schon gesprochen, und einer der Nachteile dessen, ein langsamer Aufnehmer zu sein, ist, dass ich nicht sofort wusste, was ich hätte wissen müssen: Es bedeutete, dass jetzt alles vorbei war. Ich sah Paul Renfros Arm oder ein großes Stück seines Arms, zerkratzt und verstaubt, er hing durch ein Loch
in der Küchendecke herunter, und ich sah Tante Liz' entsetztes Gesicht, und ich dachte, ich erinnere mich, dass ich dachte, so was sieht man nicht alle Tage.

    Paul stöhnte vor Schmerzen, er stöhnte vor Schmerzen in seinem Arm, er schien seinen Arm nicht wieder hochziehen zu können, er hing da und zuckte, als Paul es versuchte, und dann hing er einfach wieder da, und Paul stöhnte auch vor Schmerzen in seinem Knöchel. Er stöhnte vor körperlichen Schmerzen, und dann war da in seinem Stöhnen auch der Klang eines anderen Schmerzes, es war der Schmerz des Scheiterns, der Frustration, weil sein fortgeschrittenes Denken schon wieder unterbrochen worden war, weil jedes Mal, wenn er an der Schwelle eines Durchbruchs stand, sich Ereignisse und Menschen gegen ihn verschworen. Tante Liz wählte 110, sie sagte, in ihrem Haus wäre ein Eindringling, dass jemand in ihr Haus eingebrochen war, was sie am anderen Ende der Leitung zu verstehen schienen, aber als sie versuchte zu erklären, dass die Hand, also der Arm durch die Küchendecke kam, fingen sie an, Fragen zu stellen, sie sagte, sie sollten die Polizei schicken, und zwar sofort, und vielleicht auch gleich die Feuerwehr, denn sie wusste nicht, wie man diesem Arm aus der Küchendecke herausholen sollte, nein, sie hatte keine Medikamente genommen, sagte sie, und nein, sie hatte auch nichts getrunken, es war ein Notfall. Ich riet ihr, sie sollte auch einen Krankenwagen anfordern, aber das tat sie nicht. Sie legte auf und griff sich das größte Küchenmesser, das sie hatte, und starrte an die Decke, bereit, sich gegen den Arm zu verteidigen, sie sagte, sie würde
sich verteidigen, sie sagte, sie würde keine Sekunde zögern, sich zu verteidigen, sie meinte, sie hätte ein Messer, sie sagte, sie hätte keine Angst, davon Gebrauch zu machen. All das sagte sie in Richtung Decke, und obwohl Paul unentwegt stöhnte, war es, als könnte sie sein Stöhnen gar nicht hören. Sie streckte sich nach dem Messerblock und zog das zweitgrößte Küchenmesser raus und reichte es mir, sie schlug vor, ich sollte es wie sie machen, sie sagte, sie wäre schon

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