Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Mann wie ein Erdbeben

Ein Mann wie ein Erdbeben

Titel: Ein Mann wie ein Erdbeben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
Vom Netzwerk:
wie eine Flamme einfraß.
    Der Beamte blickte kurz auf Dorlach. Sollen wir? Dorlach nickte stumm. Das Tuch wurde am Kopfstück weggeschoben … ein schmales, bleiches, gefrorenes Gesicht lag frei, von einem Zauber überhaucht, der im Leben, selbst im Schlaf kaum wahrnehmbar gewesen war. Ein Frieden lag über dieser menschlichen Hülle, ein solches ewiges Glück, daß – so nahe dieser Mensch jetzt war – er doch nicht mehr ein Teil dieser Welt war.
    Bob Barreis trat langsam an den Zinksarg heran. Er beugte sich weit über Marion und starrte sie an. Der Beamte wollte etwas sagen, aber Dorlach winkte stumm ab. Er war gespannt, wie Bob in den nächsten Minuten reagieren würde. Bisher hatte der Tod ihn aufgereizt … jetzt war er in seine eigene Welt eingebrochen, hatte ein Stück von ihm weggenommen.
    Bob Barreis blieb in dieser vorgebeugten Haltung ein paar Minuten stehen. In ihm war alles kalt und leer, und kein Gefühl war da, das dieses fürchterliche Vakuum auffüllen konnte. Das Kribbeln in seinen Adern, der fremde, unbezwingbare Rausch, den Schmerz oder Tod anderer Menschen bei ihm erzeugten, diese wahnwitzige Lust, die ihn wie ein Taumel immer dann erfaßte, wenn andere die Todesnähe erkannten und sich mit allen Fasern ihrer Kraft dagegen wehrten, der Sexus des Entsetzens, wie er es einmal in einer Phase von Selbsterkenntnis genannt hatte, der seelische Koitus der Zerstörung, dieses wilde Dahinfließen in der Sekunde, da ein anderer sich aufgab … das alles war so gestorben wie dieser Mädchenkörper vor ihm. Als er sich jetzt über sie beugte, als er ihrem Gesicht, ihren Lippen so nahe war, als wolle er sie küssen – etwas, was der Beamte fürchtete und mit Handzeichen zu Dr. Dorlach verhindern mußte –, kam er sich vor wie jemand, der ständig in einem Zwischenstadium von Ohnmacht und Wachsein schwebt, in schwerelosem Zustand, in dem man alles hört, sieht und riecht, aber selbst zu keiner Reaktion mehr fähig ist.
    »Ist sie das?« sagte der Beamte endlich, als sich Bob noch immer nicht rührte.
    »Natürlich ist sie das!« antwortete Dr. Dorlach wie erschreckt.
    »Nicht Sie, der Ehemann muß das bestätigen.«
    »Ich weiß. Ich tue es für ihn.«
    »Das ist nicht zulässig. Ich brauche seine eigene Einlassung.«
    »Sehen Sie nicht, daß er dazu nicht in der Lage ist?«
    »Er kann es ja später im Kommissariat zu Protokoll geben.«
    »Das wird er auch!« Dr. Dorlach jonglierte am Rand einer Explosion. Die Nüchternheit des Beamten in einer solchen Situation, die selbst Dorlach zutiefst ergriff, war ein neuer Schock für Bob. Sie zeigte ihm, daß Marion, das einzige vielleicht, was er in seinem bisherigen Leben wirklich mit dem Herzen erobert und festgehalten hatte, nichts mehr war als ein Fall unter anderen Fällen. Eine Selbstmörderin. Von der Brücke in den Rhein gesprungen. Eine Nummer auf einer Kriminalakte.
    »Sie ist es!« sagte er mit erstaunlich fester Stimme. Er richtete sich auf, und er zog sogar mit einer langsamen Bewegung das Laken wieder über das bleiche, schöne, in seiner fernen Hoheit wie unangreifbare Gesicht. Es war eine Zärtlichkeit in diesem letzten Dienst an Marion, die Dr. Dorlach wie Brennen auf der Haut spürte.
    »Sie war sofort tot!« sagte der Beamte, um zu trösten; Meistens hilft das – die meisten Menschen haben eine schreckliche Angst vor einem zu langen Leiden. Ein schneller Tod – das ist ein ideales Weggehen. Das tröstet ungemein. »Genickbruch«, fügte er erklärend hinzu.
    »Schon gut!« Dr. Dorlach faßte Bob unter und zog ihn ein paar Schritte zurück. Der Beamte umklammerte die Stangen des Rolluntersatzes und schob Marion durch die Isoliertür weg in einen Raum, aus dem beim Aufschwingen der Tür die Kälte über Bobs Gesicht wehte. Die Ewigkeit auf Erden. Kühle der Unendlichkeit.
    »Können wir?« fragte Dorlach leise. Bob drehte sich zu ihm hin. Seine schönen, braunen Augen, rehhaft, in der Liebesekstase groß und glänzend, die Frauen in der Tiefe ihrer Seele zerstörend, waren wie leblose gläserne Einsätze hinter den Wimpern. Dorlach erschrak vor diesen Augen. Er schien zu erkennen, daß die letzte Spur von Gefühl aus Bob Barreis gewichen war.
    »Wir können. Wohin, Doktor?«
    »Zur Polizei, dann zum Hotel.«
    »Warum das?«
    »Marion hat da etwas hinterlassen, sagt der Direktor.«
    »Einen Brief?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Gehen wir.«
    Beim Ersten Kommissariat nahm man zu Protokoll, daß Bob Barreis seine Frau Marion identifiziert hatte.

Weitere Kostenlose Bücher