Ein Mann will nach oben
hatte.
Weniger stolz wäre er wohl gewesen, wenn er gesehen hätte, wie wenige Augenblicke nach dem Zuklappen der Tür Rieke am Küchentisch zusammensank und losweinte in ihre Hände hinein, klagend, herzzerbrechend klagend … Weniger stolz … aber da war Karl Siebrecht schon mit viel Stolz dabei, die zudringlichen Fragen des Bäckers über die Gründe seines Auszugs ein für allemal abzuschneiden.
32. Der erste Tag
Der Rollwagen hielt an der Westseite des Stettiner Bahnhofs, ein wenig entfernt vom Ausgang bei der Gepäckausgabe, mehr nach dem Vorortbahnhof zu. Es war kurz nach zehn Uhr vormittags, der Warnemünder D-Zug mußte in ein paar Minuten eintreffen. Die Pferde waren nur mäßig geputzt, es war ein Gespann zweiter Garnitur, mit ziemlich geflickten Geschirren. Darüber hatte es die erste Auseinandersetzung mit Franz Wagenseil gegeben. Bei der zweiten war es um das Schild gegangen. »Das Schild kommt nicht an meinen Wagen, Gott verdamm mich«, hatte der Wagenseil geflucht, »das ist mein Gespann!«
»Aber ich bin der Unternehmer!«
»Du bist mir ein schöner Unternehmer! Gib mir lieber meine zehn Mark!«
»Heute abend. Und das Schild kommt doch dran!«
»Erst, wenn ich dir alle Knochen im Leibe zerschlagen habe, du dämlicher Rotzjunge!«
So war der Streit eine Weile gegangen. Schließlich war Karl mit beiden Schildern losgefahren, und seines war viel kleiner. Er schwor sich, von seinem ersten Verdienst ein neues Schild malen zu lassen, dreimal so groß als das von Wagenseil. Es war überhaupt ein Kreuz, von einem so launischen Mann abhängig zu sein, heute so, morgen so. Hoffentlich war er bald soweit, daß er überhaupt von keinem Menschen mehr abhängig war …
Karl Siebrecht wußte nicht, warum Herr Franz Wagenseil heute so düster in eine Zukunft blickte, die ihm gestern noch rosig erschienen war. Der Pferdehändler Emil Engelbrecht war nämlich durch Bestechung eines Wagenseilschen Fuhrknechtes hinter das Geheimnis von Rizinus und Aloe gekommen und war gegangen, seiner Aussage nach direkt zur Polizei! Und dem Rappen ging es nun wirklich schlecht. Wagenseil war in der Gefahr, einen Gaul voll bezahlen zu müssen, der ihm durch seine Fuchsschliche krepierte. Was Wunder, daß der Franz Wagenseil finsterster Stimmung war und auch ein Unternehmen wie die Berliner Gepäckbeförderung für einen Bockmist ansah. Alle wollten sie ewig was von ihm, Geld, Pferde – und der Junge war nicht mal für zehn Mark gut. Bockmist, besch … eidener!
Karl Siebrecht also stand um zehn Uhr neun Minuten neben seinem Gespann. Das Sattelpferd hatte er vorschriftsmäßig abgesträngt, und er hatte auch die Vorsicht gebraucht, den auf dem Bahnhofsplatz diensttuenden Blauen zu fragen, ob er da wohl halten dürfe, länger halten dürfe, vielleicht lange halten dürfe. Der Blaue hatte nichts weiter als die gewichtigen Worte gesprochen »Von mir aus!«, was aber als Erlaubnis völlig genügte. Der Aprilmonat stritt gegen seinen Ruf: auch heute schien die Sonne, am blauen Himmel segelten weiße Wölkchen über den Bahnhofsplatz. Der Junge pusselte am Geschirr herum und schielte dabei von Zeit zu Zeit nach den Dienstmännern, die etwa fünfzehn Meter von ihm teils standen, teils auf ihren Karren saßen. Sie taten alle so, als sei da kein Rollwagen der Berliner Gepäckbeförderung aufdem Bahnhofsplatz. Karl Siebrecht war sich klar darüber, daß er heute kaum eine Fuhre kriegen würde, so schnell gaben die Dienstmänner nicht nach. Obwohl sie im Hinblick auf seine Kasse sehr schnell nachgeben mußten! Er hoffte … Denn eigentlich war es ja nicht auszudenken, daß er hier bis zum Abend untätig stehen sollte, den Pferden an Mähnen, Schwänzen und Geschirr herumpusselnd, und es brannte ihm auf den Nägeln! Mit jeder müßig verrinnenden Minute rann ihm sein Kapital fort – und in dreieinhalb Tagen, nun nur noch in dreieinviertel Tagen, war es alle. Ein ganz klein bißchen hoffte er auf den ekelhaften Tischendorf. Er war zwar fest entschlossen, nicht die geringste Konzession zu machen, halb und halb wurde geteilt, nicht anders, aber vielleicht gab Tischendorf nach. Um nachzugeben, mußte er aber erst einmal kommen, und das tat er nicht. Statt seiner kam der Dienstmann Kupinski. Er fuhr mit seinem leeren Karren an den Karren der anderen Dienstmänner vorbei, und obwohl er dort noch gut hätte einrücken können, schob er seine Karre Siebrechts Pferden so unter die Nase, daß sie die Köpfe hochwarfen und
Weitere Kostenlose Bücher