Ein Mann will nach oben
zwanzig, er war nun über dreißig, er hatte Fell zusetzen müssen wie alle!
95. Bist du es, Hertha?
Schon zehnmal, schon zwanzigmal hatte Karl Siebrecht in diesen Monaten seine Wohnung wechseln wollen, aber nie war er dazu gekommen. Mit der Krienke waren längst alle diplomatischen Beziehungen abgebrochen, sie lebten in offenem Kriegszustande. Seit er von seiner Wirtin verlangt hatte, sie möchte ihm doch einen Tisch in die Stube stellen, er wolle ihn sogar bezahlen, er habe aber abends manchmal noch zu schreiben – seitdem war Karl Siebrecht als Mitmensch für Frau Krienke erledigt. Er hatte das Zimmer als Chauffeur gemietet, ein Chauffeur fuhr Autos, ein Chauffeur schrieb nicht. In ihre Stube kam kein Tisch, und wenn er sich mit Geld ausstopfte! Wenn er was zu schreiben hatte, sollte er sich gefälligst in die Küche setzen –! Aber das Maß lief über, als in später Abendstunde ein Bote von Herrn Körnig kam und nach »Herrn Direktor Siebrecht« fragte. Hier gab’s keinen Direktor, hier gab’s bloß Arbeiter, Proleten geradeheraus gesagt. Der Bengel sollte machen, daß er sich schleunigst entfernte!
Trotzdem hätte der vielbeschäftige Karl Siebrecht sich wohl noch lange keine neue Wohnung besorgt, aber als er am Abend nach dem großen Vertragsabschluß mit der Bahn nach Haus kam, lag da auf seinem Bett ein Stadttelegramm. Er riß es auf, er las: »Heute abend nach acht Passauer Straße Nummer soundsoviel, eine Treppe links, Portier hat die Schlüssel.« Nein, keine Unterschrift, keine Unterschrift – und schon lief Karl Siebrecht auf die Straße.
Plötzlich wurde es ganz still in ihm, die erste Aufregung war abgeebbt, er gab sich dem Gefühl hin, daß er sie nun wiedersehen würde … Ich hatte ja doch auf sie gewartet, dachte er. Soviel Menschen auch um mich waren, ich habe mich nach ihr gesehnt. Sie hat mir gefehlt, ein Mensch, mit dem ich über alles sprechen kann … Und ich werde auch immer mit ihr über alles sprechen. Nie wieder Heimlichkeiten, von allem Anfang an. Ich habe etwas dazugelernt …
Dann stand er vor dem Haus. Die Tür war schon abgeschlossen,er mußte nach dem Portier klingeln. Er sah empor an dem Haus. Eine Treppe hoch war alles dunkel, aber er mußte sie heute abend noch sehen, er würde sie auch sehen, er fühlte es. Erst der ärgerliche Ausruf der Portiersfrau: »Na, wer bimmelt denn hier mitten in de Nacht?« schreckte ihn auf. Es war übrigens noch nicht neun Uhr abends.
Er ging rasch zu dem kleinen Fenster, beugte sich ins Dunkle und sagte ein wenig unsicher: »Mein Name ist Siebrecht. Es sollen hier Schlüssel für mich hinterlegt sein.«
»Aba jewiß doch, Herr Direktor!« Die Stimme aus dem Dunkeln klang plötzlich so höflich, daß kein Zweifel bestehen konnte, ihre Besitzerin war ausgiebig geölt worden. »War ten Sie ’nen Oogenblick, Herr Direktor, ick schließ Ihnen die Tür von innen uff und schalte det Treppenlicht in.« Gleich darauf wurde es in der Treppenhalle hell, die große Tür öffnete sich, und die Portiersfrau forderte ihn auf hereinzukommen. »Wa schließen det Haus imma schon um achte«, flüsterte sie. »Die Straße is nich mehr, wat se jewesen is vorm Kriege. Hochparterre, Herr Direktor, jleich links, Ihr Name is an die Tür. Jute Reise jehabt, Herr Direktor? Danke ooch schön, Herr Direktor!« Und sie ließ einen Schein verschwinden.
»Es ist jetzt niemand oben in der Wohnung?« fragte er, ein wenig enttäuscht.
»Nee, Herr Direktor, die junge Dame is schon vor sechse jegangen, und det Mächen soll ja erst am Ersten kommen. Bis dahin mach ick schon det bißcken reine. Jute Nacht ooch, Herr Direktor, wünsche ooch wohl zu ruhen …«
»Danke schön. Gute Nacht«, sagte er und stieg langsam die Stufen zu »seiner« Wohnung empor. Es war ihm, als sei er in einem Märchen, aber das Märchen lief nicht ganz, wie er erwartete. Das hätte sie nicht tun sollen, dachte er, mir eine Wohnung einrichten. Ich kann mich doch nicht von ihr aushalten lassen. Aber das ist ganz sie, kalt und leidenschaftlich, berechnend und naiv. Wenn ich sie wenigstens heute abend noch sehe, wenn wir uns irgendwo getroffen hätten wie damals am Zoo … aber dies, das ist zuviel und das ist zuwenig …
Auf dem kleinen Messingschild an der Tür stand in schwarzen Buchstaben nur sein Name »Karl Siebrecht«. Das hatte sie für ihn bestellt und anfertigen lassen, sie war also schon Tage in Berlin, sie hatte ihm eine Wohnung eingerichtet, vielleicht war sie schon Wochen hier,
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