Ein Mann will nach oben
–?« fragte sie dann, und ihre Stimme schien ohne Klang zu sein, wie ein ferner Ruf aus Nebel. »Ja –?« fragte er zurück, und erkannte seine eigene Stimme nicht, so geisterhaft kam ihm alles vor. Die Bücher glitten zu Boden, und sie sahen sich weiter an, stumm, glühend. Immer feuriger wurde der Nebel, wurde zu rotem Rauch. Sie fühlten in der tönenden, schwingenden Stille, daß sie einander besitzen wollten, und sie zögerten diesen Besitz hinaus, sie warteten noch … Sie sahen sich nur an und suchten einander zu erraten, sie drangen ineinander ein, sie fragten und antworteten – ohne ein Wort. Dann standen sie auf und gingen aufeinander zu. »Ja –!« sagte sie wieder, aber diesmal hatte ihre Stimme allen Schmelz und alle Tiefe der Liebe. »Ja –!« antwortete er und nahm sie in seine Arme.
Auf seinen Armen trug er sie, dieses dunkle, leidenschaftliche Geschöpf, trug sie wie ein Kind durch die Zimmer, und während sie mit geschlossenen Augen in seinen Armen lag,flüsterte er ihr Zärtlichkeiten zu. »Meine Welle«, flüsterte er. »Meine Woge, trage mich hoch, trage mich immer noch höher, wirble mich hoch! Ich bin so schwer ohne dich …« Und sie lauschte ihm, mit geschlossenen Augen, ein unbestimmtes Lächeln auf dem blassen Gesicht.
Trotz aller Einwendungen gegen das Überraschende, Regellose, Ungewisse ihres Verhältnisses kam Karl Siebrecht manchmal der Gedanke, daß sie beide, ohne verheiratet zu sein, eine sehr viel bessere Ehe führten, als er sie je mit Rieke gehabt hatte. Hertha Eich durchdrang sein ganzes Leben, ihr gehörte nicht nur ein Teilchen von ihm, wie er es Rieke halb widerwillig zugestanden hatte, er konnte sich ihr nirgends entziehen. Es gab keine Geheimnisse vor ihr. In manchen Dingen hatte sie einen unglaublichen Scharfblick. Als erste warnte sie ihn vor dem ehemaligen Lehrling Egon Bremer, diesem rothaarigen, kaltschnäuzigen Menschen. »Setze ihn raus, solange es noch Zeit ist«, sagte sie. »Der Mann kommt um vor Ehrgeiz. Glaubst du wirklich, er sitzt wegen des bißchen Gehalts jeden Abend bis zehn im Büro? Er will dein Nachfolger werden!«
Er lachte sie aus. Er erzählte ihr von Egon, dem Lehrling, von der Aufopferung, mit der er in schlimmen Tagen die Gepäckkarren gezogen hatte.
»Nun«, sagte sie, »wir werden später sehen. Behalte ihn, aber habe ein Auge auf ihn. Wenn er dir einen Streich spielen kann, wird er es tun. – Gehen wir jetzt ins Museum, oder ist der Herr Direktor unabkömmlich?« Natürlich war er eigentlich unabkömmlich, ging aber doch mit. So wurde er im Umgang mit ihr von Woche zu Woche ein anderer Mensch. Er wurde fester, bestimmter, ruhiger. Wie es ihn stolz machte, diesen Körper zu haben, der Glück geben und empfangen konnte, wie er ihn aufrechter trug, besser pflegte, geschickter kleidete, so fühlte er auch, daß er innerlich ruhiger wurde, daß er nicht mehr auf die anderen hörte, sondern zuerst auf sich.
Dem Gang der Geschäfte bekam diese Entwicklung ihres Direktors nur gut: sein Urteil war nicht mehr von Launenund Leidenschaften getrübt, er erlaubte seinen Stimmungen keinen Einfluß mehr. Vielleicht übertrieb er es wie alle Anfänger: er sah seine alten Mitarbeiter nur noch kühl an. Die Palude bekam es zu fühlen, Egon Bremer – aber auch mit dem alten Gepäckträger Herrn Beese wechselte er kaum noch ein Wort. Er hatte jetzt viel Arbeit. Er baute, da der Dienst auf den Bahnhöfen sich völlig eingespielt hatte, den Kundendienst aus, die »Lumpensammler«, wie sie es nannten, diese Wagen, die Stadtteil für Stadtteil abfuhren, Koffer holten und möglichst ohne Leerfahrten zu bestimmten Zeiten an die Bahn schaffen mußten. Das erforderte ein gut Teil sorgfältigster Organisation und Kalkulation. Die Einnahmen waren jetzt befriedigend, wenn auch weit davon entfernt, üppig zu sein, aber sie wurden von dieser Neuorganisation völlig verschlungen. Eine Telefonzentrale für die Anrufe der Kundschaft mußte eingerichtet, der Wagenpark verdoppelt, das Personal sogar verdreifacht werden. Die Löhne und Gehälter, die jeden Monat aufgebracht werden mußten, waren erschreckend hoch, und das Geld blieb entsetzlich knapp, aber er sprach nicht mehr davon. Die Firma Gollmer hatte ihre Beteiligung bereits verdoppelt, und trotz alledem saßen vor jedem Ultimo Herr Körnig und er viele Stunden bis in die tiefe Nacht hinein und rechneten und beratschlagten. Er unterschrieb die ersten Wechsel seines Lebens.
»Wenn wir erst mit dem Aufbau fertig
Weitere Kostenlose Bücher