Ein Mensch namens Jesus
höher und minder bewertete Klassen schockierte ihn geradezu. Auf den ersten Blick ließ sich auch der Ausschluß von Frauen mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit körperlicher und geistiger Zucht rechtfertigen. Aber konnte man denn nicht wenigstens Ehefrauen zulassen? Selbst die Propheten hatten Frauen gehabt. Wenn man das Fleisch in Qumran schon so verachtete — vielleicht hatte man sogar Angst davor —, warum wurden dann nur gutaussehende Männer ausgesucht? Er versuchte die Erinnerung an Saphira zurückzudrängen, aber sie tauchte auf Umwegen, in Form einer Frage, wieder vor ihm auf: Warum nahm denn er sich keine Frau? Vielleicht tat er den Essenern mit seiner Kritik unrecht. Vielleicht waren sie gleich ihm mit ganz anderen Gedanken und Sorgen als denen, eine Familie zu gründen, beschäftigt. Und Jokanaan...
Da hörte er das Geräusch von Sandalen auf dem Steinboden. Er drehte sich um. Sein Herz machte einen Freudensprung. Tief lagen die Augen in ihren Höhlen, die Wangen schienen eingefallen, die Nase war spitz geworden. Aber der Mund war schön wie eh und je, fast purpurn leuchteten die Lippen, und sie lächelten. Jesus ließ seinen Gefühlen freien Lauf und wollte Jokanaan eben umarmen, als dieser einen Schritt zurückwich.
»Du darfst mich nicht berühren. Selbst als Novize wäre es dir nicht erlaubt. Herzlich willkommen! Ich hatte dich erwartet.«
Wieder sahen sie sich in die Augen, schweigend, fast befremdlich mutete es Jesus an, wie sehr sich ihre Begrüßung in die Länge zog. Warum hat er mich nur herbeigesehnt? fragte sich Jesus.
»Brüder können einander nicht näher sein, als wir es sind«, sagte Jokanaan mit nahezu unhörbarer Stimme. »Bist du mit der Absicht gekommen, bei uns zu bleiben?«
Jesus antwortete mit einem Kopfnicken.
»Du wirst zunächst Novize sein. Die Probezeit dauert zwei Jahre. Die Meister verlangen sehr viel. Wenn du einmal Mitglied unserer Gemeinschaft geworden bist, dann bleibst du es für immer. Eheschließung wird nicht gern gesehen, dennoch haben sich einige unserer Brüder, vor allem jene, die in der Nähe von Städten leben, eine Frau genommen. Wir besitzen nichts und teilen alles. Wir arbeiten auf den Feldern oder in den Werkstätten, meistens abwechselnd, einmal hier und einmal dort. Wenn das Noviziat abgelaufen ist, offenbaren dir unsere Meister unsere Lehre. Ich werde dich den Obersten unseres Rates vorstellen, denn ich muß aufs Feld zurück. Vielleicht sehe ich dich nach dem Abendessen. Jedenfalls werden wir noch genügend Zeit haben, uns zu unterhalten.«
»Und danach?« fragte Jesus.
»Danach?«
»Was geschieht denn, wenn ich Mitglied der Gemeinschaft geworden bin? Werde ich dann mit euch hier bleiben, um in der Wüste zu beten, während das Gesetz im ganzen übrigen Land zu Staub zerfällt, die Römer uns weiter beherrschen und die Priester immer pflichtvergessener und treuloser werden?«
»Sind wir damals bei unserer Begegnung nicht übereingekommen, daß die Kenntnis der Bücher die Grundvoraussetzung ist, um wahre Führer unseres Volkes zu werden? Aus welchem anderen Grund sollte sonst jemand nach Qumran kommen? Das Ende ist nah, und wenn die Stunde kommt, wird der Herr in uns seine wahren Priester finden.«
»Das Ende?« fragte Jesus.
»Ja, das Ende. >Jammern und Wehklagen wird in den Straßen und auf den Plätzen ertönen / Der Bauer wird zum Trauergeleit gerufen / Und die Klageweiber wird man kommen lassen / Bis in die Weinberge wird das Wehgeschrei zu hören sein / Denn ich werde unter euch sein und euch heimsuchen / Spricht der Herr / Toren, die ihr voller Erwartung dem Tag des Herrn entgegenblickt / Was wird jener Tag für euch sein?< Israel ist gefallen, und es wird sich nicht wieder aufrichten. Uns bleibt nichts anderes zu tun, als uns auf den Tag des Herrn vorzubereiten.«
»Und was ist mit den anderen? Sollen wir sie einfach ihrem Schicksal überlassen? Das hatten wir damals aber nicht so besprochen.«
»Damals!« rief Jokanaan. »Da war ich jung, und da warst du jung.«
»Fühlst du dich jetzt alt?« fragte Jesus. »Und haben die Jahre etwa irgend etwas am Los der Juden geändert? Was nützen ihnen Priester, die sich in den Büchern auskennen, ihr Volk jedoch im Stich lassen und nur mehr auf das Ende der Tage warten? Hast du nicht schon genug studiert? Wie lange willst du noch hierbleiben? So lange, bis du so viele Zähne verloren hast, daß dich niemand mehr versteht?«
»Wie hart und grausam du mir gegenüber geworden bist!« gab
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