Ein Mensch namens Jesus
Jokanaan mit rauher Stimme zurück; Tränen waren ihm in die Augen getreten, und unwillkürlich wich er zurück. »Was soll ich denn tun? Hinausziehen und predigen? Hätten meine Worte denn mehr Wirkung als die der Propheten? Und deine? Sie haben wirklich Propheten über Propheten gehabt und doch nicht auf sie gehört.«
»Oh, wie du von ihnen sprichst, Jokanaan! So wie du denken auch die Sadduzäer und Pharisäer im Tempel! Ich sehe schon, du wirst hier bleiben, bis deine Gebeine unter Wüstensand und Steinen zu Staub zerfallen sind.«
Jokanaan schloß die Augen und atmete tief durch. »Ich liebe dich und weiß, daß auch du mich liebst«, sagte er, als er sich wieder gefaßt hatte. »Aber deine Liebe ist bitter wie Galle. Ich habe dich nicht gezwungen, nach Qumran zu kommen. Bist du gekommen, um dich uns anzuschließen, oder um mich zum Weggehen zu bewegen? Warum machst du mir so schwere Vorwürfe? Du weißt ja gar nicht, wie sehr ich mich quäle...«
»Was quält dich?«
»Ich warte auf den Messias, aber wird er noch vor meinem Tod kommen?«
»Und wenn er nicht kommt?«
»Das wäre schlimmer als der Tod«, flüsterte Jokanaan. »Hör mal«, sagte er und suchte nach Worten, »haben wir nicht beide begriffen, daß es keinen Sinn hat, Zelot zu werden? Willst du, daß wir hier einen bewaffneten Aufstand vorbereiten? Willst du das wirklich? Glaubst du, daß das einen Nutzen haben oder eine Wirkung zeigen würde? Glaubst du, daß wir den Priestern den Krieg erklären können? Sie stehen unter dem Schutz der Römer. Genausogut könnten wir uns gleich auf die Römer selbst stürzen. Man muß retten, was noch zu retten ist. Ein paar Gerechte müssen Sodom vor dem Feuer des Himmels bewahren. Was willst du anderswo? Hast du schon daran gedacht, daß du allein wärst? Und hier bin doch ich bei dir!«
Jesus schloß die Augen. Der kleine Raum, in dem sie sich gegenüberstanden, war eine Art Grenzstelle zwischen der Ehrlosigkeit und dem Warten auf das Ende. Es war vielleicht besser, sich noch ein wenig Zeit zu lassen, um in Ruhe nachdenken zu können. Aber das Ende! Was sollte er davon halten? Flüchtig dachte er an die Nächte nach seiner Begegnung mit Dositheus, Nächte, in denen ihn Zweifel geplagt hatten. Das Ende? Es wäre gleichzeitig das Ende Gottes. Jokanaan konnte er das nicht sagen, ja, nicht einmal die leiseste Andeutung dieses lästerlichen Gedankens durfte er verlauten lassen. Er fühlte sich müde. Sein Weg durch die Wüste hatte also zu diesem Bollwerk geführt, einer Festung des Glaubens mit so schmalem Einlaß, daß man sich notgedrungen selbst verstümmeln mußte, um ins Innere zu gelangen.
»Ich werde bleiben«, verkündete er, wagte jedoch nicht, hinzuzufügen: für einige Zeit.
Zwei Männer erschienen in der Tür.
Jokanaan wandte sich zu ihnen um. »Dieser Mann ist mein Vetter Jesus. Er ist gekommen, um sich uns anzuschließen. Führt ihn vor den Rat!« Dann ging er.
»Ich heiße Hezechäus«, stellte sich einer der beiden Männer vor. Er hatte eine athletische Figur und war schön, was Jesus zu dem Gedanken bewog, wie vergeblich Schönheit doch war. »Folge mir bitte!« Sie überquerten einen Innenhof, in dessen Mitte der viereckige Turm emporragte, der ihm schon von weitern aufgefallen war, und gelangten in einen Saal. Männer saßen hier auf Steinbänken, über steinerne Tische gebeugt. Einige lasen in Schriftrollen, andere schrieben emsig. Ob sie die Bücher wohl neu schrieben? In der Stille war nur das Kratzen der spröde übers Pergament gleitenden Federn zu vernehmen und das hektische Surren einer verwegenen Fliege, die wahrscheinlich durch eines der offenen Fenster vom Hof draußen an diesen ehrwürdig-ernsten Ort gelangt war. Ein Schreiber hob den Kopf, griff nach einer Riegenklatsche und wartete, bis das Insekt seinen wilden Zickzackflug unterbrach und sich irgendwo niederließ. Ein flinker Schlag, und schon war es um sie geschehen. Der Schreiber schob das tote Tier mit seiner Sandalenspitze auf den Fliegenfänger, ging zum Fenster und warf es hinaus. Während er zu seinem Platz zurückkehrte, warf er Jesus einen flüchtigen Blick zu und ließ dann seine Augen etwas länger auf Hezechäus ruhen. Ein Anflug von Unwillen zeichnete sich in seinem Gesicht ab. Schließlich nahm er ein Priesterkäppchen aus einem Korb hinter seiner Bank und reichte es Hezechäus, der es sich sichtlich verlegen aufsetzte. Dann nahm er seine Arbeit wieder auf, als sei nichts gewesen. Hezechäus beugte sich zu
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