Ein Mensch namens Jesus
Welt, so bedeutete das eine ständige Konfrontation mit den unehrlichen, schmutzigen Dingen des Lebens. Hier in Qumran hatte man die Unlauterkeit verbannt, doch mit ihr war auch jegliches Leben gewichen. Er fühlte sich allein. Er dachte an seine Mutter. An seine uneingestandene Sehnsucht nach Saphira und nach Joasch, dem Dieb... Mit Menschen wie ihnen müßte man das Leben neu gestalten, überlegte er gerade, als die Tür aufging und er wieder in den hell beleuchteten Raum gerufen wurde.
Ein anderes Ratsmitglied stellte ihm Fragen über seine Gesundheit und über die Krankheiten, die er bisher gehabt habe. Schließlich forderte er ihn auf: »Würdest du dich bitte ausziehen, damit wir feststellen können, daß du auch wirklich ein Mann bist.«
Verwirrt blickte er die Männer an. Mit gebieterisch erhobenem Kinn verlieh der Prüfer seinem Befehl Nachdruck. Jesus entkleidete sich bis auf das Lendentuch.
»Auch den Schurz!«
Splitternackt stand Jesus nun vor der Versammlung. Der Prüfer stieg vom Podium herab, schritt zunächst um ihn herum und besah ihn sich dabei aufs genaueste, betastete dann seine Muskeln, untersuchte Zähne, Augen und Ohren.
»Der Kandidat ist ein Mann«, verkündete er dem Rat, »und er ist bei guter Gesundheit.«
Jesus zog sich wieder an.
Die zwölf beratschlagten halblaut, welchen Betreuer und Gefährten sie Jesus zuweisen sollten. Schließlich kamen sie überein, ihm zwei zu geben: Hezechäus für das Gemeinschaftsleben und Jokanaan für die religiöse Unterweisung. Man rief Hezechäus herbei, um ihn über seine neue verantwortungsvolle Aufgabe aufzuklären. Dabei wurde auch angeordnet, daß Jesus, je nach Umständen und Bedürfnissen, in der Tischlerwerkstatt und auf den Feldern arbeiten solle.
»Was seine Unterbringung betrifft«, verfügte der Meister der Essener, »so wird er in deinem Haus wohnen, Hezechäus. Nun geht!«
Der Hof lag verlassen; nur eine einzige Fackel leuchtete ihm noch. Oben im Turm hielt der Späher sein wachsames Auge auf den Horizont gerichtet; wohl für den Fall, daß die Sterne vom Himmel fielen oder rötliche Staubwirbel das Nahen der Heerscharen des Bösen ankündigten. Sie gelangten an ein langgestrecktes Gebäude, das in einzelne Wohnzellen mit jeweils eigener Haustüre unterteilt war. Hezechäus öffnete seine Tür, zündete eine Lampe an, zog eine zusammengerollte Matratze aus einer Ecke hervor, klopfte sie aus und meinte zu Jesus: »Hier ist dein Bett.«
»Ich habe Durst«, sagte Jesus.
»Auf dem Fensterbrett steht ein Krug.«
In langen, gierigen Zügen trank er das frische, nur ganz leicht salzig schmeckende Wasser. Zum Umfallen müde war er! Am Boden kniend, verrichteten sie ihr Gebet. Dann fiel Jesus erschöpft auf sein Lager. Draußen wisperte der Wind seine irrwitzigen Fragen ins Dunkel der Nacht. Die Sterne funkelten wie eh und je über den Köpfen dieser Menschen, die fest daran glaubten, daß die Gestirne früher oder später vom Himmel fallen würden, weil die Juden vom rechten Weg abgekommen waren. Weit weg, im entferntesten Winkel Asiens, legte sich der erwachende Tag über die Reisfelder, und die Hibiskussträucher wiegten ihre taubeperlten Blüten im Morgenwind.
XX.
Der Prozeß der Kleinmütigen
Die Tage vergingen wie im Flug und die Nächte, so wie der Sand durch die Finger rinnt und nichts als feinen Staub zurückläßt. Die Welt draußen, Jerusalem und Kafarnaum, Marias ureigenste Art, das Brot in ein Leinentuch einzuwickeln, und Josefs typische Geste, wenn er die Klinge des Hobels prüfte, der Duft der Orangenbäume in der schlammigen Erde gegen Ende des Winters und das Kindergeschrei im Gäßchen nahe bei ihrem Haus, merkwürdige Erinnerungen wie die an den greinenden Aristophoros oder an Saphira, wie sie eine Sandale in der Nacht verliert — all dies zerfiel zu Staub, zu Staub im Wind. Er hatte gelernt, den Acker zu bestellen, und er konnte mittlerweile Hebräisch. Sein Körper war hart geworden wie Stahl, ein Feuerstein würde er bald sein und Funken sprühen bei jeglichem heftigen Stoß. In einigen Wochen war sein Noviziat beendet. Qumran sollte nun sein Jerusalem werden. Vielleicht würde er eines Tages die Welt wiedersehen, falls man ihn auserwählen sollte, anderswo eine neue Gemeinschaft zu gründen.
Doch einer Sache war er sich gewiß: Das Ende der Welt stand ihnen nicht bevor. In Jokanaan, der mit Jesus’ Ausbildung betraut war, rief das Schweigen seines Schützlings ein wachsendes Gefühl von Beklemmung
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