Ein Mensch namens Jesus
Davids... Jesus aber entstammte dem Geschlecht Davids. Er, Jokanaan, wußte das, und außer ihm wußte sonst kein Mensch davon. Aber all das konnte er dem Rat nicht so ohne weiteres schon jetzt enthüllen; die zwölf müßten zunächst einmal darauf vorbereitet werden. Als er an der Türe der Schriftgelehrten angelangt war, kamen ihm die Worte in den Sinn, die Efraim über Jesus geäußert hatte: »Welch merkwürdiger Mann.« Merkwürdig, in der Tat! Er pochte leise an die Tür. »Herein«, kam es von drinnen. Der verkrampfte Gesichtsausdruck Elifas’ ließ die beiden Alten zunächst vermuten, der Novize habe ein schweres Vergehen begangen. Matthias befürchtete schon, man würde Elifas der Masturbation bezichtigen. Und Jokanaans erregte Stimme versetzte tatsächlich all seine Sinne in Alarmbereitschaft angesichts dieses äußerst unangenehmen Themas, das ihn offensichtlich erwartete.
Hezechäus hatte Elifas am hellichten Tag schlafend im Leder- und Fellschuppen hinter der Gerberei überrascht. Da er irgendeine nächtliche Aktivität vermutete, die ihn ungehörigerweise am Schlaf gehindert hatte, verlangte er von ihm eine Erklärung für dieses zusätzliche Schlafbedürfnis. Elifas stammelte nur wirres Zeug, und aus dem Gestottere ging eine recht ungereimte Geschichte hervor. Hezechäus, der gerade anderweitig beschäftigt war, bat Jokanaan, den Tutor Elifas’, Licht in diese Angelegenheit zu bringen. Unter Androhung von Strafmaßnahmen bekannte Elifas schließlich den Grund seiner Schlaflosigkeit. Er hatte ihn nicht verraten wollen aus Angst, man würde ihm keinen Glauben schenken oder ihn für verrückt halten. Der dumpfe Aufprall eines Körpers auf der Strohmatratze neben seinem Lager hatte ihn aus dem Schlaf gerissen. Als er die Augen aufgeschlagen hatte, sah er, wie sein Zimmergefährte Jesus offensichtlich in Trance abermals von seinem Lager aufstieg und frei in der Luft schwebte.
Efraim und Matthias verzogen das Gesicht. Es war unmöglich, den Rat einzuberufen, ohne vorher eine ordnungsgemäße Überprüfung eines so unglaublich klingenden Berichts durchgeführt zu haben. Eine volle Stunde wurde Elifas aufs peinlichste verhört; er wich jedoch um keinen Deut von seiner bisherigen Darstellung des Vorfalls ab. Die beiden Alten waren mehr als fassungslos; äußerste Verunsicherung beschlich sie. Wunder solcher Art waren nicht mehr vorgekommen seit... »Ja«, schaltete sich Jokanaan ein, »seit dem Meister der Gerechtigkeit.«
Matthias ging, um den Meister von diesem Ereignis in Kenntnis zu setzen, der ihm auch die anderen Ratsmitglieder herbeizurufen befahl. Um die dritte Stunde, hieß es, werde eine außerordentliche Versammlung abgehalten, da eine derart wichtige Angelegenheit keinen Aufschub dulde. Jokanaan und Elifas vertraten sich die Füße im Hof.
Hezechäus gesellte sich zu ihnen. »Was ist nun bis jetzt herausgekommen?« erkundigte er sich.
»Der Rat wird einberufen.«
Wo war Jesus? Er arbeitete in der Schreinerwerkstatt.
Der Rat tagte zur vereinbarten Zeit. Jokanaan wurde gebeten, an der Sitzung teilzunehmen; außer Elifas wurde nur er geladen, da er sowohl Elifas’ als auch Jesus’ Tutor war.
»Das Licht des Vollmonds schien ins Zimmer, als mein Bruder Jesus und ich abends zum Schlafen zurückkehrten«, berichtete Elifas. »Durch ein Geräusch in der Kammer wachte ich auf; ich hatte geglaubt, einen Körper auf die Strohmatratze fallen zu hören. Mir wurde plötzlich ganz sonderbar zumute, und ich drehte mich ein wenig zur Seite, um zum Lager meines Bruders Jesus hinübersehen zu können, und da erblickte ich...« Die Stimme versagte ihm.
»Was hast du gesehen?« fragte Efraim.
»Jesus schwebte mit angezogenen Beinen und mit geschlossenen Augen über seiner Matratze.«
»Vielleicht hast du das nur geträumt«, legte Efraim ihm nahe. »Aber nein, gerade das Geräusch hat mich doch geweckt, und dann konnte ich nicht wieder einschlafen bis... bis heute vormittag.«
»Hezechäus fand ihn um die Mittagszeit schlafend im Schuppen der Gerberei«, fügte Jokanaan erklärend hinzu.
»Dann hast du dir das Ganze nur eingebildet«, meinte Efraim. »Jesus hockte zwar da, aber in der Dunkelheit glaubtest du, ihn über dem Boden schweben zu sehen.«
»Mein Vater«, widersprach Elifas mit Nachdruck, »wenn ich doch den Schein des Mondlichts auf seinem Bett unter ihm gesehen habe! Kurze Zeit darauf vernahm ich zum zweitenmal einen dumpfen Aufprall. Mein Bruder Jesus war wieder auf die Matratze
Weitere Kostenlose Bücher