Ein Mensch namens Jesus
bewiesen hätte. Generationen von Wüstenspringmäusen schaffen also einen Gott. Der Mensch allerdings unterscheidet sich von der Wüstenspringmaus: Er träumt. Er ist unruhig und kann nicht auf einem Fleck bleiben. Folglich wird er seiner Götter müde und schafft ständig neue...«
Der Greis schwieg eine Weile, um wieder zu Atem zu kommen, und blickte auf die Wüste. Sie schillerte rosa unter den ausgebreiteten Flügeln von Millionen von Heuschrecken, die sich in der Nacht zuvor hier niedergelassen hatten — und sicherlich den Speisezettel der Wüstenspringmaus bereicherten.
»Du hast mich vorhin gefragt, weshalb niemand unseren Glauben wiederbelebt hat. Die Antwort ist einfach. Um ihn neu beleben zu können, hätte man Neuerungen einführen müssen. Man hätte also das alte Brauchtum ändern müssen. Die Reichen und Mächtigen, jene, die uns regiert haben, solange es etwas zu regieren gab, stellten sich dagegen, denn wenn man eine alte Ordnung durch eine neue ersetzt, tauscht man in der Folge auch die alten Herren gegen neue aus. Die Armen hätten eine solche Wende gewiß begrüßt, doch sie konnten sich gegen die Reichen nicht auflehnen. Jetzt gibt es in Heliopolis keine Reichen und keine Armen mehr. Fast niemand ist mehr hier, und der
Glaube ist inzwischen tot.«
Sein Blick irrte über die zur Hälfte vom Sand verwehten Lotusknospenkapitelle, die Mauern, die die Sonne gebleicht und der Wind zerfressen hatte, und über die umgestürzten Säulen.
Er schloß mit den Worten: »Du bist Jude. Die Juden entstammen unserem Land. Euer erster König war ein Ägypter, er hieß Moses. Er ging fort von hier, weil er unseren Klerus als korrupt empfand. Und von Reisenden, die sich manchmal hierher verirren, höre ich, daß auch euer Glaube im Sterben liegt. Laß dir von mir gesagt sein, daß, falls du eines Tages deinen Glauben ändern willst, die Reichen deine ersten Feinde sein werden, weil du unweigerlich eine Bedrohung für ihren Reichtum und ihre Macht darstellst.«
Die Worte des ägyptischen Priesters klangen ihm noch in den Ohren, während die Küste Phöniziens vor ihm immer näher kam. »Auch die Götter sterben... Den Reichen und Mächtigen widerstreben Veränderungen... Deine ersten Feinde werden die Reichen sein...« Das bedeutete, er würde ganz wie mit den Essenern auch mit Pharisäern, Sadduzäern und der gesamten Hierarchie Jerusalems aneinandergeraten, wenn er nur die geringste Veränderung vornehmen wollte. Und Jahwe, war Er tot? Lag Er im Sterben? War das der Grund, weshalb sich keine Propheten mehr erhoben? Folgten die Juden demnach den Spuren der Ägypter?
Es wurde der Befehl erteilt, die Segel einzuholen. Die Ruderer des zweiten, dann die des ersten Decks erhielten die Anweisung, sich in die Riemen zu legen. Die Passagiere, die sich von den Schrecken des Sturms erholt hatten, lehnten nun lässig an der Reling.
Nein, Jahwe war nicht tot, Jahwe konnte nicht sterben!
Jesus sah die Passagiere forschend an, die ihre Kleinmütigkeit wieder zu vergessen suchten, indem sie gierig in langen Zügen doppelt vergorenen Wein aus ihren Reiseflaschen tranken... Ob sie wohl auf meiner Seite sein werden? fragte er sich. Nein, das waren Kaufleute, und Kaufleute haßten es, wenn etwas in Unordnung geriet.
Die Gerüche der Heimat — er befand sich ja nun kaum eine Wegstunde von Galiläa entfernt — empfingen ihn beim Verlassen des Schiffes. Warmes Sesambrot, Käse in knoblauchgewürztem Olivenöl, in Koriander gebratene Fische und Lammbraten mit Minze, all diese Düfte drangen überall aus den Hafenschenken. Es fiel ihm ein, daß ja Passah-Fest war. Sicher fehlte er seiner Mutter. Und auch Jokanaan. Er würde keine Zeit haben, einen Abstecher nach Bethlehem zu machen, um das Fest mit seiner Mutter, Jakobus und den anderen zu begehen. Im Grunde wurde ihm für alles die Zeit zu knapp. Für alles? Für was eigentlich? Er fragte sich, woher diese innere Hast in ihm kam.
Das Passah-Fest beging er allein, auf der Straße nach Kafarnaum, und lediglich mit Brot und Zwiebeln als Mahlzeit. Als er in der Abenddämmerung den Ort erreichte, suchte er geradewegs die Wohnung des einstigen Lehrlings Elias auf.
Der kleine Tischler lebte noch immer im selben Haus. Er war eben aus seiner Werkstatt heimgekommen, als er jemanden an die Tür klopfen hörte. Er blickte den Mann, der da lächelnd auf der Schwelle stand, fragend an, dann begann sein Gesicht zu strahlen, und er breitete die Arme aus. »Wo warst du? Sag, wo warst du nur
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