Ein Mensch namens Jesus
anderen wurde aus Hanfsaft gewonnener Wein angeboten. Ein Gelähmter kaute hingebungsvoll Rauteblätter. Huren kreischten und sangen, Lustknaben zeigten beim Tanz ihre enthaarten Achseln.
Aus der Straße der Cäsaren kam ein weiterer Zug von fast nackten Männern und Frauen heran, die einen riesigen, mit Bändern geschmückten und auf Blumen gebetteten roten Phallus zogen. Sie sangen herausfordernd obszöne Lieder.
»Ist er nicht schön?« rief eine alte Griechin Jesus zu.
»Viel zu groß«, antwortete der achselzuckend.
Er kam sich gealtert vor. Zu viel hatte er gesehen, zu viel erfahren. Aber vielleicht war all das noch immer nicht genug. Auf der Straße, die ihn nach Norden führte, empfing er den Regen wie einen Segen des Himmels.
Zweiter Teil
Die Jahre in der Öffentlichkeit
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I.
Jokanaans Überzeugung
Während der Überfahrt von Kreta nach Phönizien brach ein Sturm los. Es war einer jener tobenden Wutanfalle der Naturgewalten, wie sie in den Berichten der Seeleute sonst eher den Launen der Nordmeere als denen des Mittelmeeres zugeschrieben werden und in denen sich die Mutter der Zivilisation mit rasender Wut gegen jene Ufer warf, wo man zu viele Tempel zu Ehren anderer Mächte als ihrer eigenen errichtete und wo zu viele Philosophen die Unberechenbarkeit der Natur, die sie selbst verkörperte, vergaßen. Wie ein Spielball wurde die phönizische Triere von der Höhe der schaumgekrönten Wogen in die Abgründe aus gischtgeädertem Marmor geworfen. Der Großmast war gebrochen. Es war vom dritten bis zum ersten Deck unmöglich geworden zu rudern, und die Ruderer unter der Brücke fluchten bei allen Göttern, die sie so schadenfroh auslachten. Die Passagiere in der Achterkajüte, ein halbes Dutzend Kaufleute und ein Glücksritter, klammerten sich indessen an alles, was in ihrer Nähe greifbar war, Metallbeschläge, Tauwerk oder Winschen, um das Stampfen, Schlingern und die gewaltigen Erschütterungen des Schiffsrumpfes zu überstehen, wenn er wieder hart in die Wellentäler zurückfiel, unter denen die Hölle lauerte — welch Paradoxon, denn ansonsten wären sie nichts gewesen als nasse Kleiderbündel, die in Erbrochenem und Salzwasser durcheinanderpurzelten und auf Bauch und Rücken über die glitschigen Planken rutschten, um sich zwischen zwei Heringsfässern oder zwei Säcken voll Rosinen plötzlich Auge in Auge mit ein paar zu Tode verängstigten Ratten wiederzufinden.
Auch roch es nicht sonderlich angenehm. Die von der Angst geschüttelten Passagiere schwitzten stark. Jesus ergriff daher eine Taurolle und kämpfte sich zur Brücke hinauf, um dort der kalten Furie zu trotzen. Ein Ende des Taues zurrte er am Maststumpf fest, das andere knotete er sich mit sechs Ellen Spielraum um die Hüften, so daß er ein gutes Stück Seil, einer toten Schlange gleich, nach sich schleppte. Er war noch nicht ganz fertig damit, als bereits eine riesige Wasserwand über ihm zusammenschlug und ihn mit aller Wucht erfaßte, bevor sie auf der anderen Deckseite wieder hinabstürzte. Er lächelte. Der Gefahr war er sich zwar durchaus bewußt; jeden Augenblick konnte das Schiff sinken. Doch die Angst nützte ihm schließlich nichts.
Völlig durchnäßt und starr vor Kälte, klammerte er sich an die Reling. Und als die Triere auf dem Kamm einer Woge entlangfuhr, sah er in den todbringenden Abgrund hinab, der sich unter ihr auftat. Wenn das Leben nur auch so einfach wäre, konnte er gerade noch denken, bevor ihn eine Ladung Gischt ohrfeigte. Dieses verrücktspielende Meer wirkte wie eine Taufe. Es verjagte die Erinnerungen an Kompromisse und Demütigungen, an korrupte Priester und anständige Huren, leidende Kinder und klagende Greise, verworrene Philosophien und verwirrte Philosophen, an Tempel, die zu groß waren für wirkliche Götter, und Götter, die zu klein waren für diese Welt. Er hatte Ägypten gesehen und Kappadokien, Byzanz und Ktesiphon am Tigris, er hatte unter den Massageten, jenen Bewohnern der Steppe, gelebt, und er hatte die Pyramiden gesehen und Tempel in allen Farben. Überall war er nur der Angst vor dem Tod und der Gier nach Fleischeslust und Gold begegnet, niemals aber hatte sich die Seele erhoben — wußte überhaupt einer, was das ist, die Seele? Für die sogenannte zivilisierte Welt war der Mensch ein Wesen, das sich entweder die Ewigkeit zurechtzimmerte, sprich zunichte machte, oder das sich Zugang zu dem einen oder
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