Ein Mensch namens Jesus
Wegerichumschlägen zu behandeln. Andreas, Simon und Philippus beendeten ihre Mahlzeit in verwirrtem Schweigen.
»Wo hast du das alles gelernt?« wollte Philippus schließlich wissen. »Auf meinen Reisen. Es ist sehr nützlich, nicht nur Heilmittel für die Seele, sondern auch für den Körper zu kennen. Ein Mann mit einem verletzten Bein ist ebensowenig fähig, das Wort des Herrn in sich aufzunehmen, wie ein Betrunkener.«
Jokanaans Schüler schien unbeeindruckt.
»Unser Körper gehört doch dem Bösen, oder nicht?« fragte er. »Ist er nicht der Sitz der Begierde, bis er zu dem der Verwesung, der Quelle aller unreinen Körperflüssigkeiten, wird? Müssen wir ihn denn nicht züchtigen, um ihn so rein wie möglich zu halten?«
»Hast du dir schon einmal überlegt, wie viele gesunde Menschen fromm sind, und wie viele Kranke gottlos?« gab Jesus zurück. »Ja? Hast du das? Glaubst du etwa, ein brandiges Bein würde dir den Weg zum Heil verkürzen? Meinst du nicht, daß Jokanaans Taufe auch die Reinigung des Körpers von seinen Übeln bezweckt? Und glaubst du, daß ein kranker Körper der Geisteskraft zuträglich sein kann?«
»Ja, aber wenn der Körper vom Bild der Sinneslust gequält wird?« fragte der Mann in fieberhafter Erregung.
»Ein gesunder Mann, der verheiratet ist und seine Frau begehrt, trägt keinerlei Schuld, sonst wären Moses und David als Ausbund der Lasterhaftigkeit zu bezeichnen gewesen, und du, du würdest die Sünde begehen, über deine Vorfahren zu urteilen und sie für sittenlos zu halten«, antwortete Jesus. »Hüte dich vor den Listen des Bösen, der uns glauben machen will, wir seien Engel!«
»Und wenn man nicht verheiratet ist?« wollte der andere weiter wissen.
»Wer unfähig ist, seine Natur zu zügeln, sollte nicht ledig bleiben.« Der Mann senkte den Kopf, nahm den Schwanz des gegrillten Fisches, der auf seinem Teller übriggeblieben war, und kaute ganz langsam und nachdenklich darauf herum. Dann stand er auf. »Du hast zwar vielleicht mein Bein geheilt, aber meinen Schritt hast du verunsichert«, meinte er mit einem bösen, verkniffenen Lächeln, während er sich auf sein gesundes Bein stützte. »Wer sagt mir denn, daß du nicht selbst eine List des Bösen bist?«
Jesus zuckte mit den Achseln. Dann schenkte er sich Wein ein. Doch Jokanaans Schüler wollte sich so nicht zufriedengeben: »Du hast meinem Meister gesagt, daß du nicht der Messias bist. Wer also bist du?«
»Ein Mann im Dienste des Herrn.«
»Dann«, folgerte der Mann, »steht mein Meister über dir, und du bist nicht mehr oder weniger als ich, denn stehen wir nicht schließlich alle im Dienste des Herrn? Und was können Leute wie wir schon ausrichten ohne einen Messias? Ohne einen Mann wie Jokanaan? Nichts, gar nichts!«
»Eine Unverschämtheit sondergleichen ist das!« schrie Philippus. Der andere maß ihn mit einem ironischen Blick.
»Sieh mal«, lenkte Jesus ein, »es gibt einen Unterschied zwischen einem erwachsenen Mann und einem Kind. Während der Erwachsene die Gesetze der Natur, so wie sie der Herr erschaffen hat, kennt und durchschaut, wundert sich das Kind, weshalb die Rebstöcke im Winter keine Trauben hervorbringen und warum Schafe keine Eier legen. Die Kinder warten immer auf Wunder.«
»Was soll das heißen?« fragte der Mann und setzte sich wieder.
»Es hat scheinheilige Priester gegeben«, fuhr Jesus fort, »die glaubten, das Gesetz des Moses durch Wortspielereien verdrehen zu dürfen. Das hat Verbitterung und viel böses Blut hervorgerufen. Einige voreilige Männer sahen in den Römern die Verantwortlichen für all dies und glaubten das Problem zu lösen, indem sie hier und da einige Römerköpfe zertrümmerten. Das heißt, sie benahmen sich wie Kinder, die dem Tisch, an dem sie sich gestoßen haben, Fußtritte versetzen. Die Römer sind nicht schuld an der Scheinheiligkeit des Klerus. Dann gab es da noch fromme Männer, die der Auffassung waren, daß der zürnende Allmächtige Palästina und die ganze Welt vernichten werde, so als würde Er sich in Seiner unendlichen Weisheit nicht anders als ein Marktschreier verhalten, der, weil er wütend ist, daß er nichts verkauft hat, seine Waren zusammenpackt und sich schlafen legt. Dein Meister Jokanaan und ich, wir haben unter diesen Männern gelebt, die das urplötzliche Ende der Welt erwarten. All das ist kindisch. Wir müssen erwachsen werden.«
»Was soll das nun wieder heißen?«
»Daß ein Messias eine solch wunderbare Lösung wäre, wie
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