Ein Mensch namens Jesus
Kinder sie erwarten.«
»Willst du damit sagen, daß der Herr keine Wunder wirkt? Daß er keinen Messias schicken wird?«
»Kein Mensch kann wissen, was der Herr tun wird. Nein, ich meine damit, daß es, wenn jeder Mann und jede Frau auf ein Wunder warten, um den Herrn verehren zu können, täglich ein Wunder und in jeder Generation einen Messias geben müßte. Wunder ereignen sich nur nach dem unergründlichen Willen Gottes. Und das einzige tägliche Wunder ist der Glaube.«
Er schenkte dem Mann Wein ein.
»Und du«, fragte jener nachdenklich, »was gedenkst du zu tun? Herumziehen und predigen wie ein Rabbiner ohne Synagoge? Warum sollten dir die Leute Glauben schenken, wenn du ihnen nicht ein Zeichen göttlicher Kraft gibst wie Jokanaan, der sich während des Gebets in die Lüfte erhebt?«
»Das wird sich noch weisen«, entgegnete Jesus. »Im Orient wimmelt es von Magiern. Aber ich bin mir nicht sicher, ob sie auch nur eine einzige verirrte Seele zu Gott zurückgeholt haben.«
»Und ich, was soll ich deiner Meinung nach tun?«
»Wenn dein Bein geheilt ist, dann schließ dich wieder deinem Meister an.«
Der Mann erhob sich, nickte auf undurchdringliche Weise mit dem Kopf und ging. Simon, Andreas und Philippus schwiegen nachdenklich.
»Du gehst verdeckt vor«, sagte Philippus plötzlich mit geschlossenen Augen. »Es ist, als wolltest du uns sagen, daß wir nichts von dir zu erwarten haben, und doch...«
Als er die Augen wieder öffnete, stand ein junger Mann an ihrem Tisch. Von magerem Wuchs war er, wie ein ausgedörrter Strauch, und in seinem ernsten Gesicht leuchteten einzig die Augen. »Verzeih«, sprach er Jesus an. »Ich habe das Gespräch zwischen dir und diesem Mann mit angehört. Und mir ist klargeworden, daß du derjenige bist, von dem ich seit Wochen reden höre. Kann ich mich euch anschließen? Ich heiße Natanael.«
»Was machst du in deinem Leben, Natanael?«
»Wenn man das als Beruf bezeichnen kann«, sagte Natanael lächelnd, »dann bin ich Sohn eines Rabbi. Aber eigentlich sollte ich Kaufmann werden. Ich habe bereits einen Bruder, der Rabbi ist.«
»Warum willst du uns folgen?«
»Dir will ich folgen«, präzisierte Natanael. Sein Blick wanderte melancholisch über den Tisch. Jesus schenkte ihm Wein ein. »Ich habe dich reden hören«, meinte er endlich, »du bist die Freiheit. Noch nie habe ich jemanden wie dich reden hören. Und was du gesagt hast, habe ich noch nirgendwo zu hören bekommen. Ich weiß nichts aus meinem Leben zu machen, was mich befriedigen würde. Und es ist lange her, daß mich Worte, wie ich sie vorhin von dir gehört habe, so im Innersten getroffen haben.«
»Und das wäre?« fragte Jesus.
»Daß wir erwachsen werden müssen.«
Da war eine Glut, die nur darauf wartete, geschürt zu werden. »Ich kann dich natürlich nicht daran hindern, mit uns zu gehen. Vielleicht wirst du enttäuscht sein. Doch in jedem Fall bist du uns willkommen. Dies hier sind Andreas, Simon und Philippus.«
Nun waren sie also zu fünft, als sie am nächsten Tag die Grenze nach Samarien überschritten. Erst in der Nacht erreichten sie Sichem, das von manchen auch Sychar genannt wurde.
»Sychar«, brummte Simon belustigt. Er mußte an den abgedroschenen Witz über diese samaritische Stadt denken, in dem ihr Name angeblich mit dem gleichlautenden aramäischen Wort verwechselt wurde, das soviel bedeutete wie Trunkenheit. »Sychar, Stadt der Trunkenbolde!«
»Na, na«, tadelte Jesus lächelnd, »ihr Gott ist auch der unsere, selbst wenn sie Ihn nicht auf dieselbe Art und Weise verehren.«
»Die Samariter!« brummte Simon trotzdem weiter. »Weißt du denn nicht, daß ein Stück Brot, das von einem Samariter stammt, unreiner ist als Schweinefleisch?«
»Ich habe beides gegessen, Schweinefleisch und Brot von Samaritern«, entgegnete Jesus ungehalten über eine solche Anwandlung von Intoleranz. »Sei doch nicht noch fanatischer als die Priester im Tempel!«
»Meister! Du hast Schweinefleisch und Samariterbrot gegessen und wagst das auch noch laut zu sagen?« rief Andreas entgeistert aus. Natanael und Philippus hatten dieses Geständnis eines im »Deuteronomium« aufgeführten Vergehens, des Verzehrs von Fleisch unreiner Tiere, eher ungerührt aufgenommen.
»Schweinefleisch war früher verboten, weil die Aufzucht dieser Tiere zu teuer kommt. Sie gehen nicht auf die Felder, um dort wie die Tiere, die zum Essen freigegeben sind, zu weiden, sondern müssen mit Getreide gefüttert werden. Und das
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