Ein Mensch namens Jesus
wieder reden. Ein anderes Mittel, dieses träge Volk wachzurütteln, gab es nicht. Und nicht zu rezitieren oder irgend etwas herzubeten galt es, nein, sprechen mußte er zu ihnen, Die Rabbiner ergingen sich in Rezitationen, ihre Worte kannte man zur Genüge.
Wenn ich Rabbiner geworden wäre, überlegte er, würde auch ich sicherlich zum Rezitieren oder gar Schwafeln neigen.
Wo aber beginnen? Nicht in Judäa jedenfalls. Jerusalems Einfluß war hier zu groß. Im Handumdrehen würde man ihn zum Schweigen bringen. Er mußte im Norden, mit Galiläa, beginnen, das er von allen Provinzen am besten kannte, und auch weil der Schatten der dem Tempel angehörenden Sadduzäer und Pharisäer wie auch der des Herodianischen Hofes nicht so weit reichte. Dann erst wollte er sich Jerusalem nähern. Und danach? Er wußte es nicht. Der Pfad war recht schmal, der zwischen einer bewaffneten Revolte der Zeloten und dem gefügigen Gehorsam Jerusalem gegenüber hindurchführte. Wie auch immer, der Klerus jedenfalls würde sich darüber klarwerden müssen, daß seine Macht geschwunden war. Je nachdem, wie sich der Konflikt entwickelte, würde er sein taktisches Vorgehen darauf abstimmen müssen. Daß es womöglich zu Gewaltanwendung kommen könnte, daran bestand für ihn kaum Zweifel.
Philippus hatte sich entschlossen, sich Simon und Andreas anzuschließen. Ob aus Überdruß, Kampflust oder Erleuchtung, wer vermochte das schon zu sagen?
Zwei Tage später brachen sie auf. Die Brüder hatten Jesus ein Maultier, Proviant und etwas Geld gegeben. Und von seiner Mutter erhielt er ein Geschenk, an dem sie seit Jahren gesessen hatte: ein Gewand, das ohne jede Naht aus einem einzigen Stück Stoff gefertigt war. Lydia streifte ihm neue Sandalen über die Füße. Eigentlich kannte sie ihn kaum und liebte ihn nur um des Andenkens ihres gemeinsamen Vaters willen. Und Lysia? Errötend erklärte sie, die linke Sandale sei ihr Geschenk für ihn, die rechte Lysias. Er mußte lachen, worauf die beiden Schwestern noch mehr erröteten und verlegen mitlachten, obwohl es ihnen, ohne daß sie wußten, wie und weshalb, eher nach Weinen zumute war. Und tatsächlich, da stahlen sich auch schon Tränen aus den Augenwinkeln.
Zuletzt verabschiedete er sich von Maria.
»Ich bin stolz«, sagte sie.
Am frühen Nachmittag erreichten sie Jerusalem, wo sie übernachten wollten. Weiter sollte die Reise dann gehen über Bet-El nach Sichem, Samaria (oder Sebaste, wie die Stadt auch genannt wurde), En-Gannim, Nain, Tiberias, Magdala, Kafarnaum... Sie gingen in einer Herberge etwas essen, wo sie auch zwei freie Zimmer für die Nacht fanden. Plötzlich trat ein Mann in die Gaststube und bat um Essig, um sich eine Wunde an seinem Bein reinigen zu können. Überrascht rief Jesus ihn an; es war einer von Jokanaans Gefährten. Er lud ihn ein, sich an ihren Tisch zu setzen und mit ihnen zu essen, und fragte ihn nach dem Grund seiner Anwesenheit in Jerusalem. Verstört oder vielleicht auch nur zerstreut, antwortete der Mann, er habe wegen seiner Verletzung dem Meister nicht weiter folgen können. Unablässig betrachtete er die tiefe Schnittwunde an seinem Bein, die sich entzündet hatte; bereits der halbe Unterschenkel war mit flammender Röte überzogen. »Folgen? Wohin?« fragte Jesus.
»Das weißt du nicht? Er hat beschlossen, nach Samarien zu gehen, um dort die Ankunft des Messias zu verkünden.«
Spielte er den Ahnungslosen, der nicht wußte, daß es sich bei dem besagten Messias um ebenjenen Mann handelte, mit dem er gerade ungeniert sprach? Doch was mußten das für Schüler sein, die den Überzeugungen ihres Meisters so gleichgültig gegenüberstanden? Jesus hörte auf zu essen und starrte den Mann an. Als dieser den forschenden Blick auf sich ruhen fühlte, wandte er Jesus den Kopf zu und sah ihn nahezu herausfordernd an.
»Das bist du, der Messias, nicht wahr?« Er deutete mit einer Kinnbewegung zu Jesus hin.
»Aber du glaubst es offenbar nicht.«
»Wir dachten immer, Jokanaan selbst sei es.«
Der Wirt brachte den Essig. Jesus bat, sich die Wunde ansehen zu dürfen, und wies den Wirt dann an, einen heißen Breiumschlag aus Leinsamenöl und Mehl zu bereiten. Dem fügte Jesus noch ein wenig Honig hinzu, um das Ganze dann eigenhändig auf die Schnittwunde zu legen und das Bein zu verbinden, wobei er dem Mann dringend riet, so lange im Bett zu bleiben und das Bein ruhigzustellen, bis die entzündliche Röte zurückgegangen sei, und es dann noch drei Tage lang mit
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