Ein Mensch namens Jesus
der uns fragen wollte, ob du nicht Jesus seist, Jesus, der...«
»Und du hast natürlich geantwortet, daß ich es sei.«
»Meister!« flehte Simon. »Wir waren alle so überrumpelt und in Verlegenheit, daß uns die Antwort bereits im Gesicht geschrieben stand. Kannst du die Menge nicht von hier aus hören? Sie haben die Herberge fast gestürmt.«
Tatsächlich hallten draußen Schreie und erregtes Stimmengewirr. Philippus klopfte und trat, gefolgt von Andreas und Natanael, ein. »Meister«, sagte Natanael, »du kannst sicher wieder durch eine versteckte Tür flüchten. Aber wie oft willst du das noch tun?«
Jesus bat, man möge ihm ein wenig Zeit lassen, um sich vorzubereiten. Unter den neugierigen Blicken zweier Knaben wusch er sich im Hof, kämmte sich und kleidete sich an. Dann holte er ein Stück Brot und eine Schale Milch und sagte halblaut zu sich selbst: »Nun wird also die geheimnisvolle Prophezeiung beginnen, sich zu erfüllen.«
Mehr als hundert Leute warteten draußen auf ihn. Warteten sie wirklich alle auf den Messias? Einige machten eher den Eindruck von Schaulustigen, Leuten, die wohl auf dem Weg zur Arbeit diesen Menschenauflauf bemerkt hatten; fahrende Händler, ja sogar Sklaven waren darunter.
»Samariter«, rief er, und sofort verstummte alles, »es gibt nur einen Gott im Himmel. Er hat Moses Sein Gesetz überreicht, und alle Menschen, die Sein Gesetz achten, sind Seine Söhne und Brüder in Ihm. Nehmt euch in acht vor jenen, die einen Keil treiben zwischen die Brüder, denn das sind keine Freunde, und sie haben nur ein Ziel: das Volk Gottes zu schwächen. Nun ist aber gerade dieses Volk bereits stark geschwächt.«
»Mit welchem Recht sprichst du zu uns?« rief ein Mann. »Ich höre, du bist weder ein Rabbi noch ein Samariter.«
»Meinst du die von den Menschen zugestandene Macht oder die gottgegebene? Wenn du von der sprichst, die von den Menschen kommt, die habe ich nicht und will sie auch nicht. Sprichst du aber von der anderen, so höre mir getrost zu, denn sie ist jedermann gegeben, der guten Willens ist. Das Volk Gottes ist geschwächt, weil diejenigen, die die Worte des Gesetzes aufschrieben, dabei vergessen hatten, daß es sich hier um die Worte von Menschen handelte. Dadurch ließen sie den eigentlichen Geist des Gesetzes außer acht und versteiften sich lediglich auf den Wortlaut. Sie haben sich somit verhalten wie ein geistig Zurückgebliebener, der, wenn er auf seinem Weg einem Wolf begegnet und feststellt, daß das Tier vier Beine, einen Schwanz und den Kopf eines Hundes hat, ihn für einen Hund hält.«
Stimmengemurmel und vereinzeltes Lachen war zu hören. Irgend jemand rief laut: »Bist du nun der Messias?«
»Habe ich das mit einem Wort behauptet? Wenn ich es wäre, würdet ihr dann im Morgengrauen hierherkommen, um euch zu vergewissern, ob ich nicht doch wie jemand anderes aussehe? Oder würdet ihr kommen, um das Wort Gottes zu hören? Seid ihr nur hier, um einen Mann Wunder wirken zu sehen, oder seid ihr gekommen, weil ihr auf der Suche nach der Wahrheit seid?«
»Wir fragen, ob du der Messias bist, weil du gestern einen Toten wieder zum Leben erweckt hast«, meldete sich eine andere Stimme. »Ihr sprecht von einem Wunder oder vielmehr von einem Ereignis, das als solches angesehen wurde«, erwiderte Jesus. »Ich muß euch sagen, daß ich selbst andere Menschen Wunder vollbringen sah, aber dabei niemals geglaubt habe, daß einer von ihnen der Messias sei. Weizen und Unkraut wachsen auf demselben Feld. Wenn ich der Messias wäre, was wäre ich anderes als der Bote Gottes? Ich würde ebensowenig darauf bedacht sein, Ruhm zu erlangen, wie ich euch bitten würde, dazu beizutragen. Hört mich also an, ich bin gekommen, um euch daran zu erinnern, daß es keinen Weg gibt, der sich zwischen dem Reich Gottes und den Provinzen des Bösen hindurchschlängelt. Ebenso wie man nicht Bürger zweier Gegenden sein kann, so kann man auch nicht Gott und dem Teufel zugleich dienen. Versteift euch also nicht so unsinnig auf die fixe Idee, daß eines Tages der Messias kommen muß, sondern richtet euer Denken eher darauf aus, was im Sinne des Gesetzes ist.«
Die Menge, die mittlerweile noch mehr angewachsen war, lauschte offenen Mundes. Die Gesichter der Jünger wirkten angespannt, ja fast ängstlich.
»Samariter, ihr seid zu mir gekommen und habt mich sogar aus meinem Schlaf geholt. Ich hatte nicht vor zu predigen, doch da ihr das Wort Gottes hören wolltet und ein Diener des Allmächtigen
Weitere Kostenlose Bücher