Ein Mensch namens Jesus
Wohlstand gelangte ehemalige Prostituierte war? Oder eine Kupplerin?
Sie schien seine Gedanken lesen zu können, denn sie meinte mit einem Anflug von Ironie in der Stimme: »Ich war Priesterin des Astartekultes. Hohepriesterin. Aber dieser Kult ist tot, obwohl die Göttin Astarte älter ist als dein Gott.«
»Ich danke dir für deine Gastfreundschaft, doch ich bin nicht gekommen, um mir irgendwelche Gotteslästerungen anzuhören.«
»Ich wollte weder deinen Gott schlechtmachen noch dich beleidigen«, sagte sie. »Die Götter werden geboren, leben und sterben wie Sterbliche, nur daß ihr Leben eben länger dauert.«
Dasselbe hatte der Ägypter damals bereits gesagt. War das nun eine sich gerade ausbreitende Idee oder aber die Weisheit, die aus ihr sprach?
»Hör mir gut zu«, fuhr sie fort, »denn auch wenn es anders scheint, bin ich nicht dein Gegner, und du nicht meiner. Jahrhunderte hindurch war die große Gottheit, die die Menschen verehrten, eine Frau, die Göttin der Fruchtbarkeit und des pflanzlichen Wachstums. Sie trug unterschiedliche Namen bei den verschiedenen Völkern, doch sie war überall dieselbe.« Mit ihren gichtigen Fingern wies sie dabei auf die Statue. »Astarte bei uns Phöniziern, Ischtar bei den Babyloniern und Assyrern wie auch bei den Akkadem, Anat in Ugarit und Ceres bei den Römern, die ewig schwangere und jungfräuliche Erdmutter! Ein Mann war es dann, der ihre Nachfolge antrat, ein gestrenger, alter Mann, weil die Götter immer nur unser eigenes Spiegelbild sind und weil die Menschen begonnen hatten, Kriege zu führen, weil das Schwert wichtiger geworden war als die Sichel und junge Menschen töricht sind, weil die Völker nach Männern verlangen, die ihr Wissen vermehren, was sie dann Weisheit nennen, und weil es die Alten sind, denen man Weisheit zuschreibt!«
Welch große Verbitterung! Hatte sie wirklich nur ein Leben gelebt? Oder waren es zehn nacheinander gewesen?
»Du bist jung«, sagte sie, und er merkte, daß ihr Blick glasig war, »doch obwohl die Dämmerung sich über sie senkt, wirst du sie vielleicht zu neuem Leben erwecken können.«
Die Sklavin trug ungelenk ein Tablett mit den gewünschten Getränken und Naschereien herein. Zuerst bediente sie ihre Herrin, dann den Gast. Jesus kostete vorsichtig von dem Met, konnte darin aber zu seiner Beruhigung keine Spur von einem Rauschmittel ausmachen. »Woher weißt du meinen Namen?« fragte er.
»Ich habe von meinem Fenster aus alles mit verfolgt. Ich habe gesehen, wie der Mann ohnmächtig wurde, und ich habe dich kommen sehen. Ich habe beobachtet, wie du ihn geheilt hast und welche Fähigkeiten und Kenntnisse du besitzt. Zuerst dachte ich, du seist einer der Heilkundigen vom Toten Meer, dann aber erinnerte ich mich, daß ein anderer Heilkundiger namens Jokanaan die Ankunft eines von Gott gesandten Mannes ankündigt, der sich Jesus nennt. Nur du konntest das sein.« Sie lächelte, als verstünde sich diese Folgerung ganz von selbst. »Du bist schön«, bemerkte sie. »Es heißt, alle Heiler seien schön. Übrigens war es auch eine Frau, die den Aufruhr ausgelöst hat. Nichts als unterdrückte Begierden! Aber du bist nicht nur schön, du gehörst auch zu jenen, die immer jung bleiben, weil sie ewige Söhne sind, während andere von frühestem Jünglingsalter an den väterlichen Typ verkörpern. Das ist dir neu, nicht wahr? Ein Mann ist entweder Sohn oder Vater, nichts sonst! Es gibt keine Brüder! Die Frau in mir hat es sofort gewußt, als ich dich von meinem Fenster aus sah, daß du ein Sohn bist. Du kannst meinen Met getrost trinken, es ist nichts beigefügt.«
»Söhne, Väter?« fragte er mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Du weißt nicht, wer für den Typus des Vaters steht? Die Machtmenschen, die Hüter des Geldes, die Obersten der Stämme und die Vertreter des Glaubens. Jäger, Krieger, Priester, doch vor allem flachbrüstige Wesen, in deren Augen Frauen nur zu ihrem Vergnügen da sind oder um ihnen zu Nachkommenschaft zu verhelfen, oft auch beides. Und weißt du auch nicht, wer die Söhne sind? Sanft sind sie und bärtig wie junges Getreide, sie entziehen sich jeglichem Besitzanspruch und sind verliebt in die Liebe, ihre Haut ist glatt und zart wie die ihrer Mütter, und leidenschaftlich sind sie wie einst ihre Väter. Es sind Menschen, die von Männern gleichermaßen geliebt werden wie von Frauen. Ist dir aufgefallen, mit welchen Augen dich deine Gefährten betrachten? Wie Verliebte! Die Väter wollen, daß ihre
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