Ein Mensch namens Jesus
das Säubern des Weihrauchgefäßes und das Putzen der Kupferutensilien überwachte, hörte er draußen Lärm. Er öffnete die Tür. Ein Mann, ein recht schöner junger Mann, wie er zugeben mußte, sprach von den Stufen der Synagoge aus feierlich zu einer kleinen Menge. Er war von fünf Männern umgeben. Perez schätzte, daß ungefähr zweihundert Bürger zuhörten, und erkannte einige gewichtige Persönlichkeiten Nains unter ihnen, so Abraham ben Jossif, einen Händler, der ihm die höchsten Abgaben zahlte. Dann waren da Bauern, die noch von ihrer Arbeit auf den Feldern schwitzten, dazu Frauen und Kinder. Am schlimmsten war, daß seine eigene Frau sich in der ersten Reihe der Gaffer befand. Er bedeutete ihr mit Gesten, die Versammlung zu verlassen, aber entweder sah sie ihn nicht, oder es war ihr egal. Erregt schritt Perez zu ihr, packte sie am Arm und stieß sie ungeachtet ihrer Proteste in die Synagoge. Nachdem er die Tür hinter ihr zugeschlagen hatte, wandte er sich dem Redner zu und befahl ihm, die Synagogentreppe zu verlassen. Ein kurzes Schweigen folgte dieser Anweisung, dann schrie die Menge Perez nieder, und die fünf Männer, die den Redner umgaben, betrachteten den Rabbi mit ironischem Blick. »Das ist das Haus des Herrn«, wandte sich Perez an den Redner. »Tatsächlich«, erwiderte der. »Also ist es nicht deins, und du hast nicht die Macht, irgend jemanden daraus zu vertreiben. Außerdem wurde es von den hier versammelten Menschen bezahlt, denen es auch gehört.«
»Wer bist du?« fragte Perez, der die Antwort schon ahnte.
»Ich heiße Jesus, aber was bedeutet das schon? Muß man einen Namen und einen Rang haben, um das Wort Gottes zu verkünden?«
Perez erkannte schnell die Situation und beschloß, daß es im Moment am weisesten war, sich zurückzuziehen. Er ging wieder in die Synagoge und entschied entschlossen, sofort nach Jerusalem zu gehen. Während er seinen Plan noch abwog, drangen wohlklingende Worte durch die geschlossene Tür an sein Ohr: »Wie nennt ihr eine Frau, die sich für Geld hingibt?« Es war die Stimme Jesus’. »Zweifellos nennt ihr sie eine Hure. Und was ist dann eine Frau, die die heilige Verbindung mit dem Herrn gebrochen hat, um sich anderen hinzugeben?« Perez wartete die Antwort nicht ab. Er lief zum Wohnhaus hinter der Synagoge, rempelte Tamar in einem Anfall kalter Wut an, nahm in fiebriger Eile Geld, Nahrung und einen Mantel und lief zum Stall, um seinen Maulesel zu satteln. Gerade als er aufbrechen wollte, sah er seinen ältesten Sohn herbeirennen, und ohne ihm Zeit zu geben, ihn zu fragen, sagte er ihm, er sei in zehn Tagen wieder zurück. Ein leichter Druck der Fersen, und der Maulesel verließ den Stall. Perez schaute noch einmal zur Fassade der Synagoge und maß Jesus mit einem letzten Blick; der redete immer noch und hatte einen Arm erhoben. War das also der Messias? Und wer konnte es beschwören?
Perez reiste wie in Trance. Er aß kaum, achtete nicht auf Räuber, wusch sich nur flüchtig, betete nicht einmal und döste beim Anbruch der Nacht ein, betäubt und von schlimmen Träumen hochgeschreckt. Einmal, als er neben der Straße saß, um sein Maultier weiden zu lassen, und die dicke Unterlippe, die sich wie zu einem Lächeln kräuselte, die langen gelben Zähne, die ungeduldig am Gras rissen, und die großen Augen, die wie von einer Frau waren, betrachtete, als sähe er zum erstenmal einen Maulesel, brütete er zornig vor sich hin. Was sollte bloß diese Geschichte mit dem Messias? Er, Perez, war Rabbi, und dazu noch einer der belesensten — man lobte ihn sogar in Jerusalem — , und doch hatte er nicht die geringste Ahnung vom Messias. Ein Mann? Ein Engel? Was war seine Mission? Und was kam dann? Wirklich das Ende der Zeiten? Absurde Idee! Aber diesen Jesus gab es. Wer brauchte denn überhaupt einen Messias? Und warum? Es gab doch die Bücher, den Tempel, Schriftgelehrte, Rabbiner! War das denn nicht genug?
Nach fünf Reisetagen kam Perez gegen drei Uhr nachmittags in Jerusalem an. Er begab sich sofort zum Haus des Hohenpriesters Hannas und sammelte sich. Ein Levit öffnete ihm, und Perez informierte ihn in drängendem Ton, daß er der Rabbi von Nain sei und sofort den Hohenpriester sprechen müsse. Der Levit antwortete gelangweilt und hochmütig, daß der Hohepriester ruhe, aber ein Priester niederen Ranges dem Besucher sicher den nötigen Beistand leisten könne. »Hör zu«, sagte Perez gebieterisch, »ich bin Rabbi, und ich bin nicht gekommen, um mit
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