Ein Mensch namens Jesus
der Dekapolis predigt, wird dieser Jesus seinen Einfluß schwinden sehen wie den Tau bei Sonnenaufgang. Die Einwohner dieser zehn Städte haben so viele Predigten über fremde Götter gehört, daß sie immun gegen neue religiöse Führer sind. Paradoxerweise hat sich der Zehnte dieser heidnischen Städte in den letzten drei Jahren erhöht.«
»Wegen des Handels, der dort floriert«, bemerkte Hannas trocken. »Nun, was wissen wir tatsächlich über diesen Jesus und diesen Jokanaan?«
Gedaljas Gesichtsausdruck erinnerte an den einer wiederkäuenden Kuh. »Dieser Jesus«, sagte er, »scheint mir derselbe zu sein, den ich vor vielen Jahren im Tempel geprüft habe, als er noch ein Jüngling war. Ein glänzender Schüler und ein rebellischer Geist, dessen Antworten nur zu getreu die subversive Veranlagung seines Vaters widerspiegelten, der früher im selben Tempel gepredigt hatte. Der Vater hieß Josef und war ein Nazarener und...«
»Verzeih, wenn ich dich unterbreche«, meinte Hannas, »aber wenn der Vater Priester war, ist es dann nicht seltsam, daß der Sohn nicht auch einer ist?«
»Das ist auf den ersten Blick tatsächlich sonderbar, aber es ist es weniger, wenn man weiß, daß dieser Jesus geboren wurde, als Josef schon sehr alt war. Unser verehrter Meister jener Zeit, Simon, Sohn des Boethos, hatte Josef gezwungen, ein Mädchen zu heiraten, das schwanger geworden war, als es unter seinem Dach weilte.« Gedalja begleitete diese Aussage mit einem leisen Lächeln.
»Das Kind ist also ein Bastard«, meinte Hannas.
»Das ist eine einleuchtende Schlußfolgerung, aber man kann sie nicht öffentlich verkünden, denn Jesus ist von Josef rechtmäßig anerkannt worden. Der Sanhedrin würde keinen Zweifel über die legitime Geburt des Kindes zulassen.«
Hannas und Perez nickten, und Gedalja fuhr, nachdem er einen großen Schluck Tamarindensaft getrunken hatte, fort: »Gut, Jesus ist väterlicherseits der Vetter von Jokanaan. Nach unserem Wissen wurde Jokanaan in die Gemeinschaft von Qumran aufgenommen, wo sich Jesus ihm anschloß. Jesus hat aus unbekannten Gründen, über die die Herren von Qumran nichts verlauten lassen, das Kloster verlassen, und Jokanaan folgte ihm.«
»Warum hat er wohl Qumran verlassen?« fragte Perez und verschluckte eine Handvoll Mandeln. »Die Essener vertreiben ihre Schüler nicht so leicht.«
»Alles, was wir von bestimmten Schülern erfahren konnten, ist, daß Jesus Wunder vollbracht haben soll, die die Herren des Klosters alarmiert haben. Der Mann scheint also eine Neigung zu Wundem zu haben.«
»Vielleicht sollte man sich mit dieser Neigung und diesen Wundem näher beschäftigen«, murmelte Perez, der sich plötzlich unbehaglich fühlte. Vielleicht war hier letztendlich doch vom Messias die Rede.
»All dies, Bruder Perez, verdient kaum großes Interesse und noch weniger Beunruhigung. Nehmen wir die Essener: Trotz der bemerkenswerten Kraft ihrer Lehre und der Tiefe ihrer Überzeugung haben sie innerhalb von eineinhalb Jahrhunderten nur wenige Schüler angezogen. Und wie groß soll denn, bitte sehr, der Einfluß eines Essenerrenegaten sein?« Zufrieden mit seiner Erklärung, stopfte Gedalja Mandeln in sich hinein und spülte sie mit dem Rest seines Tamarindensaftes hinunter. Hannas nickte.
Nur Perez schien skeptisch: »Es wäre von mir unangebracht, mich auf das Thema zu versteifen, nachdem ich die Argumente und Auskünfte meines Bruders gehört habe, noch dazu unter der klarsichtigen Ägide des höchsten aller Priester«, sagte er und wandte sich an den Hohenpriester. »Trotzdem möchte ich den höchsten aller Priester auf die Tatsache hinweisen, daß in Provinzen, in denen nicht so fähige Leuchten wie der höchste aller Priester oder mein Bruder Gedalja wirken, eine gefährliche Sehnsucht nach dem Messias existiert. Der Herr bewahre mich davor zu glauben, daß schon die Hoffnung auf einen Messias gefährlich sei. Aber wie dieser Jesus beweist, kann eine wirre Hoffnung unkritische Geister zu Verirrungen des Geistes und des Herzens führen. Einer der Gründe meines Besuchs ist, daß ich gern meine Vorstellungen vom Messias ein wenig klären würde. Ich mag ein eifriger Leser der Bücher sein, doch ich gestehe, daß ich keine genaue Definition dieses Begriffs gefunden habe. Aber vielleicht muß man die Ursache meines unvollkommenen Wissens auch in meinem getrübten Blick suchen.«
Bei dieser unterwürfigen Rhetorik mußte Hannas sich ein Lächeln verbeißen. »Nein, Bruder, deine Augen
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