Ein Mensch namens Jesus
Messias...«
»Die Sklaven reden nur noch von ihm«, meinte Tamar.
»Die Sklaven auch? Nun, ich habe einen Brief vom Rabbi aus En-Gannim bekommen, der sich auch Sorgen wegen der Gerüchte macht, die im ganzen Land umgehen.«
»Und das läßt dich nicht schlafen?«
»Viele Dinge sind es. Da ist zunächst jener Eremit namens Jokanaan, der in Änon tauft und verkündet, daß das Reich Gottes sich erfülle und der Messias gekommen sei. Was weiß er darüber? Auf jeden Fall hören ihm mehr und mehr Menschen zu. Dann sind da die Berichte aus ganz Samaria über einen Mann namens Jesus, der Wunder vollbringt. Er hat einen Toten zum Leben erweckt, ein kleines Mädchen geheilt und was weiß ich noch. Überall, wo er auftaucht, scharen sich die Leute um ihn und hören ihm zu. Gestern war er in En-Gannim, und heute muß er schon hier, in Nain, sein. Morgen wird er überall sein, denn dort, wo er hinkommt, bleibt sein Bild zurück, und dorthin, wo er noch nicht gewesen ist, eilt ihm sein Ruf voraus. Der Rabbi von Kana hat mir seinen ältesten Sohn geschickt, um mich zu fragen, was ich von diesem Messias halte und ob ich wie die anderen zu ihm gehen werde.«
»Und was hältst du von der Sache?« fragte Tamar, die die Decke über die Knie zog, denn es war kalt.
»Das ist es ja, Frau, ich weiß nicht, was ich davon halten soll! Ich weiß es nicht. Uns Rabbinern hat man nichts über den Messias gelehrt. Es gibt nicht eine klare und deutliche Aussage über ihn in irgendeinem Buch. Ist er ein überirdischer Bote des Herrn? Ist er die Reinkarnation des Propheten Elias? Ist er der zukünftige König Israels?«
»Ich habe Hunger«, sagte Tamar, »und ich kann mit leerem Magen und müde, wie ich bin, nicht klar denken. Ich werde ein wenig Milch warm machen.«
Sie kam mit zwei Bechern Milch zurück, die sie schweigend in der langsam dahinschwindenden Dunkelheit tranken.
»Nun«, meinte Tamar, »was quält dich denn bei dem Ganzen? Wenn der Messias gekommen ist, solltest du dich freuen, endlich einem heiligen Mann in diesem Land zu begegnen.«
»Aber... wenn er das Reich Gottes und das Ende aller Zeiten verkündet, wie dieser Jokanaan behauptet, erleben wir doch unsere letzten Tage auf Erden!«
»Wir sind beide alt, Perez. Was macht es da schon, ob unser Leben in ein paar Jahren abläuft, ohne daß wir einen Messias gesehen haben, oder ob es in einigen Tagen bei der Ankunft des Messias endet? Ich wäre glücklich, wenn wir gemeinsam im Frieden des Herrn sterben könnten.« Sie stellte ihren leeren Becher auf ein Wandbrett, nahm dann den ihres Mannes und stellte ihn daneben; dann kroch sie wieder in ihr warmes Bett.
»Aber, Frau, du scheinst das Ausmaß dieses Problems nicht erfaßt zu haben. Wenn dieser Mann der Messias ist, soll ich ihn dann sofort aufsuchen und ihm all die Ehren erweisen, die er als höchster Bote verdient? Oder soll ich warten, bis er seine Macht durch wunderbare Zeichen bestätigt? Was soll ich tun? Angenommen, er ist nicht der Messias, sondern einer jener Zauberer, von denen es seit einiger Zeit wimmelt, und ich erweise ihm die Ehre, dann stehe ich da wie ein Dummkopf.«
»Die Männer neigen dazu, Gedanken vor die Taten zu stellen, Perez. Schau dir doch selber an, was für ein Mann er ist. Dann wirst du wissen, was du tun mußt.«
Sie streckte sich aus und zog sich die Decke bis zum Kinn.
»Ja«, murmelte Perez, »aber wenn er schon zuviel Macht hat, werden die Priester in Jerusalem und die Römer sich daran stören, und wenn er der neue König der Juden sein soll, wird es Probleme geben...«
»Ich wollte, du würdest all das einfacher betrachten«, murmelte seine Frau im Halbschlaf. »Wenn er wirklich der Messias ist, mußt du dich auf die richtige Seite schlagen.«
Bald darauf war sie eingeschlafen, und der erste Schrei des Hahnes ließ nicht einmal ihre faltigen Lider erzittern.
Perez dagegen konnte nun überhaupt nicht mehr schlafen in dieser Nacht. Trotz ihres gesunden Menschenverstandes, dachte er, sieht Tamar das Problem des Messias doch allzu simpel. Er hatte das Gefühl einer drohenden Gefahr — genau wie der Rabbi von Kana. Er wollte sich die Meinung eines Vorgesetzten einholen, ohne die er sich einem Notfall nicht gewachsen fühlte, zum Beispiel wenn die Einwohner von Nain diesem Jesus zujubelten und ihm, Perez, vorwarfen, er erkenne den Messias nicht.
Der Fall trat tatsächlich ein, und viel früher, als Perez befürchtet hatte. Noch vor der Mittagspause, als er in seiner kleinen Synagoge
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