Ein Mensch namens Jesus
Und ihr beiden, meine Söhne, die ihr plötzlich von irgendeinem Wahnsinn ergriffen seid, seid ihr denn taub oder verrückt geworden, versteht ihr denn nicht mehr die aramäische Sprache eurer Väter? Dieser Jokanaan kündigt einen Herold des Herrn an, der wiederum das Ende der Welt verkünden soll! Wenn die Welt ohnedies bald enden soll, denn das sagt ja dieser Eremit, was müßt ihr dann in alle Himmelsrichtungen laufen, auf den Rat eines unbekannten Griechen hin, der den Wolken zuzuhören scheint? Ihr solltet nur noch beten und die Barmherzigkeit Gottes erflehen! Und wenn der Eremit ein Verrückter ist, der eine Rechnung mit Herodes zu begleichen hat, was müßt ihr euch ereifern, als ob die Gesetze der Welt sich ändern und die Bäume mit den Wurzeln in der Luft wachsen würden?«
Isaak hatte ohne Heftigkeit, und ohne die Stimme zu heben, gesprochen, aber voller Überzeugung. Die anderen drei dachten einen Moment lang nach.
»Man muß Jokanaans Rede deuten können«, sagte Apollonios dann. »Was er verkündet, ist das Ende einer alten Welt. Es ist das Ende der alten römischen Welt und der alten jüdischen Welt, und deshalb kann seine Predigt für einen Griechen wie mich anziehend sein, Rabbi. Das habe ich auch diesen beiden jungen Männern erklärt. Und der Messias, von dem er spricht, den gibt es. Ich habe ihn selber früher getroffen und nicht gewußt, wer er war...«
Isaak schüttelte den Kopf. »Das Ende der alten jüdischen Welt«, murmelte er. »Schon das Reich Davids war zerfallen. Wie weit müssen wir noch hinabsteigen? Werden wir dieses Land verlassen müssen, in dem unsere Väter uns gezeugt haben?« Und er wandte sich um, bedeckte sein Haupt und schüttelte den Kopf.
Inzwischen bahnte sich in Nain, während Perez in Jerusalem vorsprach, die größte Erregung an, die Jesus jemals hervorgerufen hatte. Es begann noch während seiner Predigt auf den Stufen der Synagoge, die Perez sich anzuhören nicht mehr die Zeit genommen hatte.
»...Wer ist denn die Frau, die ihre heilige Verbindung mit dem Herrn gebrochen hat, um sich anderen hinzugeben?« fragte Jesus. »Sie gehört zu den obersten Kreisen der Gesellschaft! Ich war in Jerusalem, und ich habe den Tempel und die Priester gesehen, die seine Diener sind. Glaubt ihr, daß ihr Verhalten und ihre Gesichter den Kummer widerspiegeln, den unser demütiges Gebaren ihnen einflößen müßte? Nein, sie sind stolz und reich, ihre Bärte sind mit dem feinsten Nardenöl gepflegt, die Quasten an ihren Mänteln sind aus dickster Seide, es gibt für sie nur die ausgefallenste Nahrung, und ihre Truhen sind gefüllt mit Gold, dem Gold, das der Preis für ihre Schande ist. Wenn man in den Tempel kommt, sieht man einen Bereich, der den Geldwechslern vorbehalten ist, den Händlern, die an einem Tag mehr Geld verdienen als ein Arbeiter in einem ganzen Jahr, und das auf Kosten derer, die mit fremdländischen Geldstücken kommen, um Weihrauch, Tauben, Milch und andere Gaben für den Altar des Herrn zu kaufen. Dieses Geld wird also auf Kosten des Herrn gehortet! Und doch sind diese reichen Leute dieselben, die im ganzen Land den Scheffel Korn in Notzeiten zum Zehnfachen seines Preises verkaufen. Es sind dieselben, die Wucher treiben. Das alles wäre verständlich, wenn sie unsere Feinde wären. Aber angeblich sind es unsere Verteidiger und die Wächter unseres Glaubens!«
Lärm, Hochrufe, Stimmengewirr: »Einer von uns!« — »Es wurde Zeit, daß jemand hinausschreit, was jeder bei sich denkt!« — »Ein ehrbarer Mann!« — »Dieser Mann besitzt die Macht Jahwes!«
»Ich sage euch«, fuhr Jesus, ermutigt durch seinen Erfolg, fort: »Es gibt keinen schlimmeren Feind als den Feind im Innern.«
Noch mehr Lärm und Hochrufe.
»Was den Herrn am meisten beleidigt, ist«, sagte Jesus, »daß bei diesem Zustand ein Mann nicht mehr nach seinen Tugenden beurteilt wird, wie es der Fall war, als das Gesetz noch beachtet wurde, sondern nach seinem Vermögen. Ich sage euch, die, die ein Vermögen besitzen und ihre Seelen verkauft haben, um ihren Reichtum zu bezahlen, werden ärmer sein als der letzte Bettler, wenn sie vor dem Schöpfer erscheinen.« Der Beifall wurde ohrenbetäubend.
»Aber der Arme, der weder seine Frau noch seine Schwester, noch seine Tochter, noch sich selber verkauft hat, dessen Reichtum wird vor dem Herrn unangetastet sein. Er ist wie das Senfkorn, das wachsen und blühen kann, während der Reiche wie das Korn ist, das der Wind ins Meer davongetragen
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