Ein Mensch namens Jesus
Hafen ging die Fahrt? Thomas, der ihm auf seinem unregelmäßigen und manchmal sogar sprunghaften Weg folgte, schien das Echo seiner Überlegungen aufzufangen. »Und danach?« fragte er eines Tages, als Jesus stehengeblieben war, um sich im Schatten eines Maulbeerbaumes auszuruhen. »Danach?« wiederholte Jesus beunruhigt.
»Ja, danach«, meinte Thomas. »Wir säen die Empörung. Was werden wir ernten?«
»Wenn Empörung das Wort Gottes ist, haben wir nichts zu befürchten.«
»Ich sage nicht, daß wir etwas zu befürchten haben. Ich frage: Wohin gehen wir?« Und da Jesus nicht antwortete, fuhr Thomas fort: »Sowie es aussieht, mußt du am Ende Herr von fünf Provinzen sein. Du hast die Macht, und diese Macht wird in Konflikt mit der des Tempels geraten, dann mit den Häschern Roms. Denkst du daran?«
»Nein«, erwiderte Jesus.
Und Thomas brach in ein so seltsames Gelächter aus, daß Natanael ihn ansah, als sei er verrückt geworden, ein Lachen, das an das durchdringende Quietschen eines Flaschenzuges erinnerte.
Jesus lächelte. Aber in Wahrheit wußte er keine Antwort auf Thomas’ Frage.
Kaum waren sie in Kana angekommen, als man sie auch schon auf der Straße erkannte. Man begleitete sie, Kinder tanzten händeklatschend hinter ihnen her. Unbekannte kamen zu Jesus, um ihm zu sagen, daß seine Mutter im Ort sei. »Sie werden bald noch die Größe deiner Sandalen wissen«, murmelte Thomas. Sie ließen sich zu dem Haus führen, wo Maria wohnte. Jesus traf sie in Begleitung von Justus, Simon, Lydia und Lysia an. Sie waren alle zu einer Hochzeit gekommen, die am Abend stattfinden sollte. Ein vermögender entfernter Verwandter hatte darauf bestanden, die ganze Familie zur Hochzeit seines Sohnes einzuladen. Auch Jesus und seine Begleiter waren eingeladen.
Das Haus, in dem die Hochzeit gefeiert werden sollte, war nach römischer Art gebaut, das heißt, es bestand aus Gebäuden, die einen quadratischen Hof umgaben, in dessen Mitte ein Brunnen plätscherte. Fackeln und Leuchter standen überall bereit, und ein Heer von Dienstboten wartete auf die ersten Schatten der Nacht, um sie anzuzünden. Man stellte nebeneinander lange Tische auf, hob Weinkrüge auf Dreifüße und hängte Girlanden aus Blumen über die Türen. Die ersten Gäste kamen vor Sonnenuntergang. Zuerst drängten sich vor dem Haus junge Männer in Prunkgewändern mit bunten Streifen und bestickten Kragen. Ihre Haut glänzte frisch gewaschen, ihre Haare waren eingeölt und parfümiert. Unter den Blicken der Gaffer organisierten sie Spiele, warfen zum Beispiel Flaumbäusche hoch, die man mit einer Hand auffangen mußte. Darauf kam eine Gruppe junger Mädchen in noch prächtigeren Gewändern, die so taten, als würden sie die jungen Männer nicht beachten. Sie kicherten und flohen vor deren Späßen zu den Gemächern der Braut. Auch ältere Leute trafen ein, die unter dem wachsamen Blick eines alten Dieners Geschenke auf einen Tisch am Eingang legten. Endlich wurden die Fackeln und die Kerzen angezündet, der Mond ging auf, Lachen und Gesang erklangen. Der Bräutigam erschien, und man drängte sich um ihn, um ihn zu beglückwünschen. Er bemerkte Jesus und löste sich von seinen Freunden, um schüchtern den Segen des unerwarteten Gastes zu erbitten, von dem er schon so viel gehört hatte.
Ein Mann hatte Jesus und seine Begleiter schon seit dem Beginn des Empfangs beobachtet. Jesus erkannte in dem Greis mit den feuchten Augen und der gerunzelten Stirn den Rabbi von Kana und kurz darauf einen Feind. Der Mann kam nämlich zu ihm und bat ihn mit erhobener Stimme und in feindseligem Ton, wobei sein gabelförmiger Bart wie umgekehrte Hörner abstand: »Bist du der, von dem man sagt, er sei der Messias?«
Schweigen trat ein.
»Die Männer Gottes hören auf die Stimme ihres Herrn und nicht auf den Lärm der Straße, Rabbi«, erwiderte Jesus.
»Willst du damit sagen, du bist nicht der Messias?« fuhr der Rabbi fort. »Warum läßt du es dann zu, daß man es behauptet?«
»Der Fuchs auf den Feldern fürchtet den Stab des Schäfers, aber der Schäfer fürchtet nur das Feuer des Himmels«, antwortete Jesus.
Der Rabbi lachte. »Solltest du das Feuer des Himmels sein?« fragte er.
»Und glaubst du, du bist ein Schäfer, Rabbi?«
Der Rabbi atmete durch, straffte die Schultern und ging zu seiner Gruppe zurück. Die Szene hatte sich unter den Augen des hilflosen Bräutigams abgespielt. Er ließ das Essen etwas früher servieren, um die Gäste abzulenken. Die
Weitere Kostenlose Bücher