Ein Mensch namens Jesus
beiden jungen Männern eine gute Nacht. Sie rührten sich nicht. Die Kerze auf dem Tavernentisch flackerte im Wind. Ein brauner Nachtfalter schreckte die Mücken auf, die um die Flamme tanzten, und stürzte in einen leeren Becher. Seine rotierenden Flügel ließen das Metall vibrieren. Die Düfte der Nacht wurden stärker. Philippus und Natanael umgab dichtes Schweigen. Sie wechselten einen Blick. All dies war komplizierter, als sie geglaubt hatten.
VIII.
Die vierzehn
Als sie am nächsten Morgen wieder zusammentrafen, kündigten Simon und Andreas an, daß sie sich für zwei oder drei Tage verabschieden wollten, um ihre Familien wiederzusehen, die in einem Vorort östlich von Kafarnaum wohnten. Das war schon vorher ausgemacht worden, und Jesus’ Miene drückte weder Überraschung noch Widerwillen aus. Erst als sie betont hinzufügten, daß ihre Häuser selbstverständlich Jesus und den Seinen offenstünden, falls ihr Weg sie nach Osten ans Ufer des Sees Gennesaret führe, fragte Jesus, ob sie wirklich zurückkommen wollten. Sie protestierten. Was für eine Frage! Wie der Meister denn auf so etwas komme! Seien sie ihm denn von Judäa bis hierher gefolgt, um ihn jetzt zu verlassen?
»Ich habe euch heute morgen in die Augen gesehen«, meinte Jesus. »Euer Blick war verwirrt. Gestern abend, während ich schlief, muß etwas vorgefallen sein, was euch beunruhigt hat.«
»Dieser Mann kann Gedanken lesen«, sagte Andreas.
»Geht nur zu euren Familien!« fuhr Jesus fort. »Ihr wißt, wo ihr mich in zwei oder drei Tagen finden könnt.«
Als sie den kleinen Obstgarten hinter der Taverne verließen, in der die Unterhaltung stattgefunden hatte, sah Jesus Thomas, Philippus und Natanael fragend an.
»Es war so«, sagte Thomas, »wir haben über das Wesen des Messias gestritten. Ich habe zu ihnen gesagt, daß der Begriff vage ist, daß ein Messias ein Mensch sein soll, der gesalbt wurde, der also entweder ein Hoherpriester oder ein König, vielleicht auch beides ist. Du bist das nicht, und du hast nie behauptet, der Messias zu sein.«
Philippus und Natanael schauten Jesus neugierig ins Gesicht. »Stimmt, das habe ich nie gesagt. Hat sie das beunruhigt?«
»Am meisten hat sie beunruhigt, daß ich hervorgehoben habe, du seist ein Mensch, und ich sei dir gefolgt, weil du mich innerlich berührt hast, weil du ein Mensch und Sünder bist.«
»Ein Sünder?« wiederholte Jesus fragend.
Philippus und Natanael öffneten bestürzt den Mund.
»Auf jeden Fall in Antiochia.«
Philippus und Natanael waren wie versteinert.
»Das ärgerliche ist«, meinte Jesus nach einer Weile, »daß es dir gefällt, Menschen zu quälen. Du bist ein Provokateur, Thomas«, sagte er mit dem Anflug eines Lächelns. »Du hast Simon und Andreas verschreckt.«
»Sie schlafen im Stehen!« rief Thomas. »Ich muß sie einfach quälen, damit sie aufwachen. Sie glauben, du seist ein reiner Geist und daß sie dich eines Morgens auf einem Thron sitzen und Gericht halten sehen werden, und Feuerwolken werden über deinem Kopf schweben. Was ist besser, sie an diesen Unsinn glauben zu lassen oder aber sie zu quälen?« Wie immer, wenn Thomas sich aufregte, ähnelte er einer verhexten Puppe, deren wenige Haare sich aufstellten.
»Machen wir einen Spaziergang am Strand!« schlug Jesus in versöhnlichem Ton vor.
Auf dem Weg kamen sie an einer kleinen Gruppe vorbei, die sie beobachtete. Thomas, Natanael und Philippus erwiderten die neugierigen Blicke, doch Jesus reagierte nicht auf den Wunsch, sie kennenzulernen, den die Haltung der Leute auszudrücken schien. Er ging vielmehr schneller und schritt geschwind auf den See zu, als wolle er seinen Gefährten davonlaufen. Zu seinen Füßen plätscherten kleine Wellen. In der Ferne durchpflügten Segelboote das Wasser. Wolken jagten dahin. Es war derselbe Strand, an dem er sich damals zu den Fischern gesellt hatte, die gerade von ihrem Fang heimgekehrt waren; er hatte ihnen geholfen, die Netze einzuholen und zu reparieren oder den Fang zu zählen und nach Art und Größe zu sortieren: Barben, Welse, Flachfisch, Barsche, Krabben und einige Schildkröten, die sie in die Körbe legten... Jene Fischer, die schon in der Dämmerung heimgekehrt waren, vollführten heute wieder dieselben uralten Bewegungen. Jesus beobachtete sie. Da bemerkten ihn zwei junge Männer, ihrer Ähnlichkeit nach zu schließen, sicher Brüder. Sie standen mit nacktern Oberkörper im Boot und sahen ihn, gegen das Licht blinzelnd, an, während
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