Ein Mensch namens Jesus
Kreis bildete sich um den Störenfried, den Rabbi, der Synagoge.
»Hast du nicht gehört, Rabbi, was ich vorhin sagte? Ich sagte, daß keiner für sich das Wort Gottes besitzt. Willst du behaupten, du seist seiner als einziger in Kafarnaum teilhaftig?«
»Und du, willst du behaupten, daß jeder von dieser Kanzel aus predigen kann? Wozu sind denn dann die Rabbiner da?«
»Willst du damit sagen, daß ein Mann, der kein Rabbi ist, aber das Wort Gottes verkünden will, zum Schweigen gebracht werden muß, weil er kein Rabbi ist?«
Gemurmel, Stimmengewirr. »Dieser Mann hat recht, laßt ihn reden!«
»Bist du der Messias?« fragte der Rabbi nun ironisch. »Mir ist eher so, als seist du der Sohn Josefs, des Zimmermanns, der hier in Kafarnaum gelebt und gearbeitet hat. War dein Vater nicht früher Priester im Tempel zu Jerusalem? Und hatte nicht mein Vorgänger in dieser Synagoge ein Hähnchen mit dir zu rupfen, weil du die Arbeit am Tag nach der Beerdigung deines Vaters wiederaufnehmen wolltest? Ich sage euch«, wandte sich der Rabbi an die Menge, »dieser Mann gehört einem aufsässigen Geschlecht an! Wenn ihr einen von denen seht, habt ihr mit Gewißheit einen schlechten Tag!«
»Schlecht für wen?« fragte jemand in der Menge. Und ein anderer sagte: »Der Rabbi fühlt sich wohl auf den Fuß getreten!«
»Du bist ein hinterlistiger Mann«, sagte Jesus, »denn du hast mich gerade gefragt, ob ich der Messias sei. Nun, du bist gebildet genug, um zu wissen, daß es einen Hohenpriester gibt, der dich ernannt hat, und daß Galiläa einen Herrscher hat. Warum also stellst du so eine Frage, wenn du doch weißt, daß ich der eine oder der andere sein müßte, wenn ich der Messias wäre?«
»Nun«, erwiderte der Rabbi und knurrte herausfordernd, »du scheinst recht gelehrt zu sein. Aber kannst du diesen Leuten hier erklären, wie es kommt, daß du nicht den Unterricht genossen hast, der einem Priestersohn zukommt? Oder bist du etwa ein verkleideter Priester?«
»Das kann man schnell erklären, Rabbi. Glaubst du, daß mein Vater zuwenig Menschenverstand hatte, um zu dulden, daß man mich zusammen mit Wölfen unterrichtete?«
Lachen.
»Hört mir alle zu!« schrie der Rabbi wieder. »Dieser Mann ist nicht der Messias, weil kein Prophet und kein König jemals aus Galiläa hervorgegangen ist.«
»Hör du lieber mir zu, Rabbi!« rief ein Mann mit gereizter Stimme. »Willst du vielleicht damit sagen, daß wir alle hier Menschen zweiter Klasse sind?«
Jesus kannte den Zwischenrufer. Es war Elias, der ehemalige Lehrling seines Vaters. Pfiffe, Murren. Ein anderer Mann, den Jesus auch erkannte, ein weiterer Lehrling namens Zibeon, der so gut das weiche Holz polierte, stand so nahe bei dem Rabbi, daß ihre Nasen sich berührt hätten, wenn sie gehustet hätten. »Wenn du so gut im Bilde bist, Rabbi«, sagte er, »weißt du dann nicht auch, daß die Familie von Jesus aus Judäa kommt? Er könnte also sehr wohl der Messias sein!«
»Warum verficht er seine Sache dann nicht in Judäa?« brüllte der Rabbi. »Seht ihr denn nicht, daß dieser Mann uns nur Unruhe bringt? Ist das, was hier gerade passiert, nicht der Beweis dafür?« Er schnaubte vor Wut. »Man führt euch in die Irre! Ich bin hierherberufen worden, um über die Anwendung des Gesetzes zu wachen, über den Vollzug unserer Riten und über das öffentliche Wohl. Ich werde nicht zulassen, daß ein Magier euch verführt. Er behauptet, niemals gesagt zu haben, er sei der Messias. Trotzdem seid ihr alle hergekommen, um ihn anzuhören, weil ihr glaubt, er wird unser nächster Hoherpriester und König. Und übrigens«, fügte er hinzu und deutete mit dem Finger auf Jesus, »predigt er, als sei er der Messias. Entweder ist er verrückt, oder er ist ein Heuchler.«
Absolute Stille, so gespannt wie eine Bogensehne.
Ein Mann bahnte sich den Weg zum Rabbi. »Ich frage mich, wer hier eine gespaltene Zunge hat«, sagte er. Es war wieder Elias. »Du behauptest, Rabbi, du seist damit betraut, die öffentliche Moral zu verteidigen. Nun, was hat denn dann der Tempel des Sarapis in unserer Stadt zu suchen? Und weißt du nicht, Rabbi, was sich nachts in den nördlichen Vorstädten um den Altar der Aphrodite herum tut? Doch, du weißt es, man sieht dort Juden zusammen mit Heiden, Jüdinnen mit Römern. Du tust so, als wüßtest du nicht, daß viele Kinder, die in den letzten Jahren in Kafarnaum geboren werden, ihren Vätern nicht ähneln und daß man seit kurzem sogar welche sieht, die die
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