Ein Mensch namens Jesus
bist? Auch würde ich einen liebenswürdigeren Ton sehr schätzen. Ich sage es dir klipp und klar, Simon: Finde mir in den Büchern nur eine einzige klare Erwähnung des Messias! Und ich habe sie gelesen, die Bücher!« erklärte er plötzlich herrisch.
»Der Messias...« setzte Simon an, der immer röter geworden war. Dann explodierte er: »Aber Thomas, du machst dich über mich lustig! Alle wissen, wer er ist, da alle auf ihn warten.«
»Bruder«, erwiderte Thomas seufzend, »das Wort >Messias< bedeutet >der, der die Salbung empfangen hat<, was heißt, daß er ein Hoherpriester oder König sein muß oder auch beides, was aber außerdem heißen könnte, daß der Hohepriester in Jerusalem ein Messias ist. So ist es eben. Jesus ist kein Hoherpriester, und er würde sich weigern, einer zu werden, und er ist auch kein König, und außerdem habt ihr ihn alle seit Wochen gehört; er hat kein einziges Mal gesagt, daß er der Messias ist.« Die Augen der anderen wurden rund. »Zudem«, fuhr Thomas fort und deutete mit seinem knochigen Finger auf Simon, »versuche doch nur zu erklären, daß ein Messias ein Hoherpriester oder ein König ist, und du kannst alles vergessen!« Er trank einen großen Schluck aus seinem Becher und fügte hinzu: »Wenn du das sagen würdest, Simon, du Dickkopf, würde man dich sofort als Aufwiegler verhaften. Glaubt mir, Jesus weiß genau, was er tut, wenn er sich weigert zu sagen, daß er der Messias ist!«
»Aber ist er es?« fragte Philippus.
Andreas hob die Arme zum Himmel. »Glaubst du, er ist es und sagt es uns nicht? Sieht ihm das ähnlich? Und was wäre denn das für ein Messias, der dies zu sein leugnet?«
»Also, was ist er denn deiner Meinung nach?« fragte Simon.
»Ein von Gott gesandter Mensch, über den man sich bis jetzt nicht im klaren sein kann.«
»Und warum sagt Jokanaan, daß Jesus der Messias ist, und wie kommt es, daß er noch nicht verhaftet wurde?« fragte Natanael. »Schließlich hat er Jesus vor uns allen gekannt, und er muß es doch wissen.«
»Jokanaan ist eine Art Prophet, wenn ich auch nicht sagen kann, ob es überhaupt verschiedene Propheten gibt, geschweige denn, ob Jokanaan einer ist. Auf jeden Fall glaube ich nicht, daß er noch lange verbreiten wird, daß Jesus der Messias ist. Und wenn Jokanaan kein Prophet ist, so ist es ohnedies egal, ob er es verbreitet oder nicht.«
»Du hast einen sehr trockenen Humor, Bruder«, meinte Andreas. »Ich und einen trockenen Humor!« rief Thomas. »Bruder, ich weiß nicht, wer von uns beiden den ausgedörrteren Witz hat! Hätte ich euch heute abend nicht gewarnt, wärt ihr schon lange verhaftet worden, weil ihr Dummheiten von euch gegeben habt.«
Sie tranken wieder, um die Spannung zu lösen. Dann fragte Philippus: »Und was machst du bei uns, Thomas? Was machen wir alle bei Jesus?«
Thomas nickte und schürzte die schmalen Lippen. Er legte die Hand auf sein Knie und antwortete: »Die Wache auf einem Schiff in der Nacht sucht den Leuchtturm. Ich habe Jesus vor vielen Jahren getroffen. Es geschah eines Abends am Ufer des Orontes. Ich war verzweifelt. Ich, Thomas von Didyma, der Heiler, den Leute aus Patras und aus Delphi konsultierten, weil er die Orakel des Äskulap enträtseln und entscheiden konnte, ob ein Kind seine Reife erreichen, ein Mann das vierzigste Jahr überschreiten und eine Frau ihre Leibesfrucht austragen würde. Aber ich war ziellos. Ich hatte meinen Meister verloren, einen großen Philosophen, von dem ihr sicher gehört habt, Apollonios von Tyana. Seine Lehre war groß wie die Welt. Er wußte, wie man einen Schlangenbiß heilt, und er konnte an der Statur eines Mannes erkennen, unter welchem Stern er geboren war und an welcher Krankheit er sterben würde. Apollonios war tugendhaft und schön, und obwohl er sehr einfach gekleidet war, übte er auf alle große Wirkung aus, und mehr als nur ein König fragte ihn um Rat. Ein großer Weltengeist flüsterte ihm Tausende Geheimnisse ins Ohr. Er war für sich schon eine Religion. Seine Stimme erfüllte die Nacht mit Musik und mit Träumen und ließ den Tag noch heller leuchten. Und doch habe ich, Thomas von Didyma, ihn verlassen.«
»Warum?« fragte Natanael, dessen Augen vor Ungeduld glänzten. »Ja, warum? Eines Tages werde ich ganz verstehen, warum ich ihn verlassen habe. Alles, was ich weiß, ist, daß ich gegangen bin, weil mir das Herz weh tat. Dieser Apollonios war trotz seiner geistigen Kräfte eine Statue. Ich bewunderte ihn so sehr, wie ein Mann
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