Ein Mensch namens Jesus
»Aber ich frage dich, Meister, wenn deine Lehre nicht für Leute wie mich da ist, an wen wendet sie sich dann?«
»Du hast mich zweifellos verstanden, Thaddäus. Komm an meine Seite!« Tatsächlich war seine Lehre für diese Enterbten, die Beschämten, die Ausgeschlossenen da. Er wandte sich an die Menge: »Es ist klar, daß ich euch nicht alle mitnehmen kann. Ich stelle keine Armee auf. Aber das heißt nicht, daß die, die mir nicht folgen können, sich abgewiesen oder unwürdig fühlen sollen. Sie sollen meine Fürsprecher hier in Kafarnaum sein, wie ich hoffe, daß es eines Tages alle Menschen guten Willens in Palästina sein werden.«
Jakobus, der Sohn des Alphäus, flüsterte ihm ins Ohr, daß es zumindest noch einen Mann gebe, der seine Aufmerksamkeit verdiene, einen Fischer, den er kenne — der dort vorne! — und der Judas heiße. Jesus hatte das faltige Gesicht schon bemerkt, weil es ihn an das Thomas’ erinnerte, wenn ihm auch dessen unwiderstehliche Boshaftigkeit fehlte: ein Gesicht, das die Leidenschaft gezeichnet hatte.
»Judas!« sagte er.
Zu seiner Überraschung kamen zwei Männer nach vorne; der andere war ein magerer Rotschopf mit runden schwarzen Augen.
»Du heißt auch Judas?« fragte er letzteren.
»Ja, Rabbi. Man nennt mich Judas Iskariot, weil ich der Sohn des Simon Iskariot, des Gerbers, bin.«
»Bist du auch Gerber?«
»Das ist jedenfalls mein Handwerk. Aber ich übe es nicht mehr aus.« Jesus erwartete eine Erklärung. Simon der Zelot lieferte sie ihm: Dieser Judas war auch ein Zelot, der sich bemühte, andere Zeloten um sich zu scharen, um eine Partei zu gründen.
»Bist du ihm gefolgt?« fragte Jesus.
»Nein, die Zeloten sind sowieso zu zahlreich. Wir wären noch leichter anzugreifen gewesen, wenn wir uns erst einmal zu einer Partei zusammengetan hätten.«
Jesus sah Judas Iskariot fragend an.
»Ja, das stimmt«, sagte der. »Ich habe versucht, die Zeloten, die keinen echten Anführer haben, zu sammeln. Ich bin der Untätigkeit der Juden müde. Sie jammern wie alte Frauen über die fremde Tyrannei und den Niedergang im eigenen Land, aber wenn es zu handeln gilt, machen sie sich unter dem Vorwand, sie hätten Familien, davon. Alle Menschen in den fünf Provinzen kennen die finanzielle Korruption, die in Jerusalem herrscht, und sie kennen die Korruption der Sitten in der Dekapolis. Diebe und Prostituierte aller Art stellen sich am helllichten Tag in allen großen Städten dieses Landes zur Schau, und ich bezweifle, daß es einen einzigen heidnischen Gott gibt, der nicht seinen Altar in Palästina hätte. Junge Juden werden zu schandbaren Festen hinzugezogen, auf denen alle nackt tanzen, betrunken und angemalt, aber ihre Väter wagen nicht einzuschreiten, weil sie keine Autorität mehr haben. Auch der Tempelpolizei melden sie sie nicht, weil sie fürchten, ihre Ehre zu verlieren oder den Römern zu mißfallen, die diese sogenannten Riten befürworten. Das passiert sogar in Kafar-naum, wo ein Metzger neulich seine beste Einkommensquelle verlor, die römische Garnison, weil er seinen Sohn beim Rabbi angezeigt hatte. Jeder Mensch in diesem Land könnte mit dem Finger auf einen feigen oder betrügerischen Rabbi zeigen, aber keiner tut es — oder fast keiner. Weißt du das alles nicht?« fragte er Jesus. »Ist es nicht die Schande, angefacht durch die Hoffnung, die dich beflügelt?« Redegewandt, empört, wahrscheinlich ein Unruhestifter — auf jeden Fall sehr beredt, dachte Jesus. Alle haben ihn angehört. Es ist nicht sicher, absolut nicht sicher, daß er den Mann, dem er gegenübersteht, für den Messias hält.
»Judas«, antwortete Jesus, »vorhin, als ich deinen Namen sagte, bist du nach vom gekommen. Bedeutet das, daß du dich uns anschließen willst?«
»Ja. Du scheinst eine Führernatur zu sein, man folgt dir leichter als mir. Also folge ich dir.«
»Ich habe doch Simon klargemacht, daß ich die Methoden der Zeloten nicht anwenden werde.«
»Die Methoden sind egal, das Ziel zählt.« Judas’ Blick ruhte lange auf Jesus, fast herausfordernd. »Du mußt allerdings wissen«, fügte Judas Iskariot hinzu, »daß die Tempelpolizei Simon und mich sucht.«
»Du wirst trotzdem der andere Judas bei uns sein«, sagte Jesus. »Heißt das, daß ich auch aufgenommen bin?« fragte der zweite Judas, der Sohn des Jakobus.
Jesus nickte. Da sah er, wie Thomas sich am Kinn kratzte. »Hast du etwas zu sagen?« fragte ihn Jesus.
»Ja, ja. Die Zeit allein wird zeigen, nach welcher Melodie
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