Ein Mensch namens Jesus
wollt ihr dann tun?« fragte Simon der Zelot. »Und was muß der Messias tun? Sollen wir hoffen, daß die Mauern Jerusalems in dem Moment zusammenbrechen, da wir eintreffen?«
»Wie wenig Glauben ihr doch habt!« rief Jesus aus. »Wißt ihr nicht, daß eine einzige Ratte in einem Kornfeld eine Armee ihrer Artgenossen in Aufruhr bringen und eine ganze Region zum Hungertod verdammen kann? Wenn wir genug Menschen in Palästina sammeln, werden die Menschen in Jerusalem zur Machtlosigkeit verdammt sein, trotz all ihrer angeblichen Macht. Und nur Worte des Glaubens können die Menschen sammeln. Deshalb will ich, daß ihr predigt und die Leute tauft. Palästina ist wie ein Land, in dem Dürre herrscht. Ihr werdet der Regen sein!« Er verlor die Geduld. »Ich werde gehen. Die, die mich anhören wollen, sollen mir folgen, die anderen können bleiben.«
Er ging zum Ufer, nur einige Schritte von ihnen entfernt. Schwarze Wolken kamen von Westen heran. Thomas trat zu ihm.
»Zähl die, die bleiben!« sagte Jesus.
»Das habe ich schon getan. Sie sind alle hinter dir und mir, alle dreizehn. Wir sind also vierzehn, die dir folgen.«
Jesus drehte sich um. Die Gruppe stand vor der Synagoge. Kleider und Mäntel flatterten im Wind. Der erste Blitz schlug in den See ein, und fast sofort danach fiel Regen in dicken Tropfen.
»Der Himmel tauft uns schon«, meinte Thomas und zog den Mantel enger zusammen.
Jesus lachte und schüttelte den Kopf. Sie liefen in eine Herberge, um sich mit Zimtwein aufzuwärmen.
IX.
Eine verärgerte Prinzessin und Gerüchte in Jerusalem
Sie näherte sich den Dreißig, hatte also den Zenit bereits überschritten. Jede andere Frau hätte sich damit abgefunden, nun eine würdige Matrone zu werden, da die Verführungskünste in dem Maße erloschen, wie Hüften und Waden stärker wurden, um sich schließlich zu Säulen des Familiensinnes zu entwickeln. Sie jedoch nicht. Das kecke Weiß, das oben auf ihrem Kopf in einer dunkelroten Mähne aufblitzte, kündete von den Freuden des frühen Sommers und nicht vom dahindämmernden Herbst. Ihr königlicher Glanz war über jeden Vergleich mit der matten Müdigkeit der Frauen ihres Alters, die jedoch von niedrigerem Stand waren, erhaben. Als Prinzessin geboren, durch die Heirat beinahe Königin, da sie Gattin eines Tetrarchen war, hatte sie keine andere Aufgabe, als zu repräsentieren. An diesem Herbstnachmittag ruhte sie, bekleidet nur von einem Schleiergewand aus Goldfäden, auf einem Berg aus Pelzen und gestickten Kissen, die auf einer Liege, so groß wie eine Tribüne, ausgebreitet waren, und überzeugte sich einmal mehr in dem Spiegel aus poliertem Silber, den sie in der Hand hielt, daß ihre Brüste nicht herabhingen, daß die Haut um ihre Augen keine Spuren der verstrichenen Zeit aufwies, oder doch so wenig, daß der Antimonstaub sie verdeckte, und daß ihre Bauchfalten immer noch wie ein Lächeln aussahen — »Dein Nabel zwinkert mir zu«, sagte ihr Mann immer. Sie betrachtete ihre Füße, deren hoher Spann nie eine Last tragen mußte. Ihr breites Gesicht, das durch die ägyptische Art, in der sie ihre Augen schminkte, noch beeindruckender wirkte, ihr tadelloser Teint, ihr — dank der Koschenillenpaste — purpurfarbener Mund, ihre volle Unterlippe, das auffallende Grübchen, das ihr Kinn schmückte — all das zeigte ihr, daß die Macht ihrer Verführungskunst der politischen gleichkam. Wenn man vor ihr erschien, wußte man nicht, ob man wegen ihres Duftes erbebte, einer geheimnisvolle Mischung, die an braunen Honig und Jasmin erinnerte, oder in der Erwartung eines gewährten oder abgelehnten Gefallens. Sie, Herodias, Frau des Herodes Antipas, war beruhigt; sie brauchte dieses Gefühl, denn sie hatte Angst.
Eine ihrer beiden Hofdamen bot an, ihr ein Märchen zu erzählen; sie lehnte ab, indem sie einfach nicht antwortete. Ihre Amme, ein graugesichtiges Gespenst, deren düstere Gewänder an ihr schlotterten, als sei sie nur Luft, entfachte die Glut in den Feuerbecken, warf Sandelholzspäne und Zitronenschalen hinein und breitete dann auf dem Marmorboden einen Teppich aus Wolle aus und darüber einen aus Seide, der aus China stammte. Erwartung schwebte in der Luft, unsichtbar wallte sie in den bläulichen Dämpfen der Kohlebecken auf. »Gib mir das Perlenkollier«, befahl Herodias einer nubischen Sklavin, deren Haut von Öl schimmerte, »du weißt schon, das mit den Granaten.« Sie steckte die Hand in eine Schüssel mit dem ausgekörnten
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