Ein Mensch namens Jesus
sicher, dich gekannt zu haben, als du noch jünger warst. Er ist auch Mitglied unseres Rates, Josef von Arimathäa.«
»Er wäre willkommen gewesen«, sagte Jesus. »Warum ist er nicht mit euch gegangen?«
»Aus Vorsicht. Er nahm an, daß es auffallen würde, wenn zwei Mitglieder des Rates zusammen die Stadt verlassen...«
»Ich war im Tempel«, unterbrach ihn Maria Magdalena auf einmal, »und plötzlich... das Licht!«
Der ältere der Gastgeber bat sie nun zum Essen, aber Maria Magdalena dankte und sagte, sie wolle zu den Frauen gehen. Nach der Suppe gab es Zichoriensalat mit Zwiebeln, danach gegorenen Käse, frisches Brot und Oliven. Jesus hatte Nikodemus den Platz zu seiner Rechten angeboten. Die Jünger hatten sogar ihre Enttäuschung vergessen, so erstaunt waren sie, ein Mitglied des Sanhedrin im Haus der Zeloten zu sehen. Nach allem, was geschehen war! Sie wagten kaum zu kauen, aus Angst, ein Wort von dem Gespräch zwischen Nikodemus und Jesus zu versäumen.
»Ich bin zu dir gekommen«, begann Nikodemus, »weil alle Hoffnung, die noch in diesem Lande bleibt, jetzt auf dir ruht. Eine beträchtliche Anzahl von Menschen hoffen, daß du ihr Schicksal ändern wirst. Die anderen fürchten genau das.« Er hatte schon gegessen, aber aus Höflichkeit schnitt er ein Stück Käse ab, legte ihn auf das Brot — und aß so das Brot der Zeloten. »Ich kann mir gut vorstellen, daß viele Mitglieder unseres Rates deine Tat im Tempel nicht gutheißen, aber ich, als gewähltes Mitglied der wichtigsten Körperschaft des Landes, möchte dir sagen, daß ich sie gutheiße. Ich lehne das Geschäft der Händler und Geldwechsler im Bereich unseres heiligen Hauses zutiefst ab.« Die anderen hatten ganz aufgehört zu essen.
»Nun, warum hast du dann nichts getan, um dem ein Ende zu bereiten?« fragte Jesus.
»Ich und die meiner Kollegen, die dazu bereit waren, sind nur eine Minderheit im Sanhedrin. Angesichts der Tatsache, daß alle Beschlüsse eine Mehrheit finden müssen, hätten wir verloren. Und durch die Niederlage hätten wir auch die Macht verloren, gewisse andere Mißstände zu beseitigen. Es wäre also auch ein Verlust für viele andere gewesen.«
»Wie kann ein gesundes Glied in einem Organismus funktionieren, der sich auflöst?« fragte Jesus.
»Wie ein gesundes Glied in einem Organismus, der sich auflöst«, antwortete Nikodemus mit einem kleinen Lächeln, »mal gut und mal gar nicht. Jetzt frage ich dich, was du tun willst. Wirst du die geistliche Macht in Jerusalem stürzen?«
Thomas’ Gesicht war vor Anspannung verzerrt. Die anderen saßen wie versteinert da.
»Könnte ich es denn?« fragte Jesus, der selbst überrascht war.
»Ja, du könntest es. Zahlreiche Priester würden sich einem Aufstand gegen Hannas und seine Gruppe anschließen.«
»Und danach?« fragte Jesus.
Johannes’ Kehle entschlüpfte ein ersticktes »Ah«.
»Danach könntest du den Römern erklären«, fuhr Nikodemus unbeirrt fort, »daß dies Sache der Juden sei und sie nichts angehe, daß es außerdem eine religiöse Angelegenheit sei und es in ihrem eigenen Interesse liege, daß die Geistlichkeit vom Volk geachtet wird.«
»Redest du in deinem Namen, oder bist du von einer Partei des Sanhedrin delegiert?«
»Ich rede hier in meinem Namen, und ich rede nicht leichtfertig daher. Ich glaube, daß mehrere meiner Kollegen meiner Meinung sind.«
»Und wer wäre danach der Hohepriester, der über die Ordnung wacht?« fragte Jesus.
»Du, nehme ich an«, antwortete Nikodemus und sah Jesus direkt in die Augen.
Der Mann ist Politiker, dachte Jesus, aber er ist ehrlich. Sein Blick ist kalt, aber aufrichtig.
Ein ganzes Heer von Fliegen hätte Simon in den Mund fliegen können, er hätte es nicht gemerkt. Die Spannung im Raum war fast greifbar. Aus Jesus’ Gesicht schien jedes Leben gewichen zu sein. »Wenn du gekommen bist, um den nächsten Hohenpriester zu treffen, Nikodemus, so muß ich dir leider sagen, daß du dich geirrt hast. Selbst wenn der gesamte Sanhedrin dich hierherbegleitet hätte, um mir den Sitz des Hohenpriesters anzubieten, hätte ich abgelehnt. Es scheint mir, als seien gewisse Punkte deinem Scharfsinn entgangen.«
»Welche?« fragte Nikodemus.
»Man müßte die Herzen aller Priester des Tempels ändern, und das kann ich nicht. Das Unkraut hat die Felder überwuchert.«
Jokanaan und die Essener wußten das auch, aber sie erwarteten, daß das Feuer des Himmels die letzte Ernte zerstören werde. Nun, dachte Jesus, es ist
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