Ein Mensch namens Jesus
zwar nicht die letzte Ernte, aber verbrannt werden muß sie trotzdem.
»Man kann sie bessern«, schlug Nikodemus vor.
»Alle Lesungen aus den Büchern haben sie nicht bessern können«, entgegnete Jesus. »Und ich bin über all das hinaus. Ich gehöre dem Jenseits.«
Nikodemus erregte sich: »Du hast vorhin Getreide und Fleisch gegessen, und du hast Käse, Oliven und Brot gekaut. Du bist also kein Gespenst, und du bist auf jeden Fall nicht über die Nahrung hinaus. Dann hast du vor einigen Stunden die Händler und Geldwechsler des Tempels ausgepeitscht, und auch das war nur zu real. Ich habe die Schläge gehört, habe zerbrochene Tische und rollende Münzen gesehen. Und jetzt sagst du mir, daß du über all das hinaus bist und daß du dem Jenseits angehörst. Ich verstehe das nicht mehr. Wenn es in deinen Taten und in denen der Männer, die dir folgen, etwas Zusammenhängendes gibt, müßtest du jetzt die Macht in Jerusalem übernehmen!«
Jesus lehnte sich an die Wand zurück. Unter halb geschlossenen Lidern beobachtete er seine Jünger. Es war klar, was sie dachten: Ist er nun unser Held oder nicht? Wird er der Befreier sein, oder was? Von welchem Jenseits redet er? Nur Thomas schien zu lächeln. Nur Thomas hatte zweifellos verstanden.
»Bau ein Haus«, sagte Jesus sanft. »Nach einigen Jahren wird es sich unvermeidlich verändert haben. Die Balken sind von Moos überzogen, der Regen nagt am Anstrich, die Angeln verrosten. Aber das Haus, das in deinem Herzen ist, verändert sich nicht. Das Haus im Herzen ist der ewige Tempel. Laß andere sich um Steintempel kümmern, wie die Römer, und laß mich den ewigen Tempel in den Herzen der Menschen erbauen. Ich bin nicht der nächste Hohepriester.«
Johannes brach in Tränen aus.
»Und doch brauchen wir auch einen Herrn für den Steintempel«, murmelte Nikodemus.
»O ja, Nikodemus, ihr braucht so einen Herrn! Aber ihr braucht eins nach dem anderen. Ihr bräuchtet alle zehn Jahre einen Jesus! Denn, siehst du, sobald man anfängt, den Geist in materielle Formen zu gießen, stellen sich Mißverständnisse ein, genauso wie das Moos, von dem ich sprach. Mach aus dem Wort Gottes Gesetz, wie es die Pharisäer getan haben, und du hast den Fuß in ein Labyrinth aus endlosen Interpretationen gesetzt. Es ist nicht mehr das Wort Gottes, sondern ein weiteres System aus menschlichen Gesetzen. Und in diesen Gesetzen nach der göttlichen Wahrheit zu suchen wird ebenso sinnlos, als versuchte man, die wahre Länge der Elle, von der Ezechiel spricht, festzulegen.« Er hielt inne, er sah müde aus. »Der erste Tempel«, fuhr er nach einer Weile fort, »wurde in Unschuld erbaut und in Feindseligkeit zerstört. Er hätte eine Erinnerung bleiben sollen. Einen Tempel für Gott zu erbauen ist absurd! Als ob man sagen wolle: >Höre, Herr, wir bauen Dir einen Palast, damit Du dort bleibst und Dich nicht darum kümmerst, was wir draußen machen. Wir bringen Dir darin Opfer, aber laß uns unsere Geschäfte draußen so führen, wie wir es verstehen.< Siehst du nicht, Nikodemus, daß Ihn das beleidigt! Das ganze Universum ist Sein Tempel! Dieser hier ist lächerlich. Menschen üben darin die Macht aus, und Macht korrumpiert. Sie sind also korrupt. Den Platz des Hohenpriesters einzunehmen, und vor allem ihn einzunehmen unter dem Stab der Römer, heißt, mir einen wurmstichigen Thron anzubieten! Ich will ihn nicht.«
Sein Tonfall machte deutlich, daß er fertig war. Ein allgemeines Aufatmen ging durch die Runde, man räusperte sich, bewegte Arme und Beine, kratzte sich.
»Aber wenn man dich so hört, würde dein Sieg, wie er denn auch aussehen mag, das Ende des Gesetzes bedeuten!« rief Nikodemus aus. »Nein, Nikodemus«, erwiderte Thomas, »er wäre der Beginn des Gesetzes!«
Sie tranken den Rest von dem Wein.
»Man hat mir gesagt, daß die Essener dich geformt haben«, meinte Nikodemus mit gebrochener Stimme. »Ich habe nicht genug darauf geachtet... Für euch ist die Welt in zwei Reiche eingeteilt, die Materie und den Geist... Und du sorgst dich nicht um die Materie!«
Er sah verstimmt aus. Aber Jesus nun auch. Essener! Ein Wort. Warum nicht gar ein griechischer Gnostiker? »Du irrst dich«, sagte er, »ich bin kein Essener. Kennst du sie? Ihre Vorstellung vom Gesetz ist so eng, daß sie es nicht einmal wagen, am Sabbat Wasser zu lassen! Sie haben ihre Definition des Gesetzes derart verfeinert, daß sie darüber zu leben vergessen und nicht nur für sich den Tod erwarten, sondern auch den
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