Ein Mensch namens Jesus
Schar, und die Kinder riefen: »Der Messias ist da!«, die Frauen klatschten begeistert in die Hände, während Bettler und Kranke am Wegesrand im Namen Davids um Hilfe riefen und darum baten, wieder sehen oder gehen zu können oder von ihren Geschwüren geheilt zu werden. Jesus blieb abrupt stehen. Ein Blinder, der ihm dicht gefolgt war, war gefallen und stieß unverständliche Laute hervor. Jesus half ihm, aufzustehen.
»Denke an Gott!« befahl ihm Jesus.
Der Blinde hob die Arme und keifte. Jesus nahm seinen Kopf in beide Hände und betrachtete seine Augen.
»Bring mir Wasser aus dem See«, sagte er zu Andreas.
Andreas kam mit einem vollen Krug zurück. Jesus goß ihn dem Mann über dem Kopf, dann ergriff er ein Stück seines Gewandes, um ihm den vertrockneten Eiter, der ihm die geschlossenen Lider verklebte, abzuwischen. Als das geschehen war, konnte man sehen, daß die Lider und die Haut rings um die Augen stark gerötet und geschwollen waren. Eine Bindehautentzündung.
»Schau mich an!« befahl Jesus.
Der Mann öffnete die Augen und stieß einen tierischen Schrei aus. Jesus übergoß ihn mit dem restlichen Wasser.
»Wasch dich heute abend und jeden Tag des nächsten Mondes mit dem Sud einer gekochten Weidenrinde, und du wirst geheilt sein«, sagte er.
Der eben noch Blinde betrachtete mit roten Augen die Menge, sein Mund stand offen, er sah auf seine Hände und fiel vor Jesus auf die Knie. Die Frauen kreischten und jubelten, die Männer schrien. Das Ganze spielte sich vor der Synagoge ab. Als Jesus aufsah, kamen vier Männer die Stufen herab und runzelten die Stirn, vier Pharisäer, die auf ihn zugingen.
»Du heilst Menschen auf der Straße?« fragte einer, als er bei Jesus angekommen war, mit lauter und drohender Stimme. »Wir wollen nicht, daß man vor dem Haus des Allmächtigen den Teufel anruft.«
»Wer hat gesagt, daß hier der Teufel angerufen wird?« fragte Jesus in ebenso herrischem Tonfall.
»Du bist ein Magier, und Magier heilen im Namen des Teufels. Ich sage dir, geh weg!« sagte der Pharisäer, ein Sechzigjähriger mit maskenhaftern Gesicht.
»Ich bin kein Magier, und du bist unwissend«, erwiderte Jesus. »Wenn du gebildet wärst, wüßtest du, daß man Dämonen nicht im Namen der Dämonen vertreiben kann, genausowenig, wie man Feuer mit Feuer ersticken kann.«
»Du bist weder Priester noch Arzt«, meinte der Pharisäer. »Ich frage mich sogar, ob du Jude bist. Bist du nicht Jesus, der Mann, der, wie man sagt, die Mutter eines Sünders am Sabbat heilte?«
»War das ein Sabbat?« fragte Jesus. »Und wenn es so wäre?«
»Du müßtest gesteinigt werden, Gottloser!« schrie ein anderer Pharisäer.
»Als ob ich nicht wüßte, als ob all eure Dienstboten nicht wüßten, daß ihr im Inneren der Synagoge am Sabbat kocht«, erwiderte Jesus verächtlich. Er trat näher auf sie zu. »Und sagt mir, sagt allen Leuten hier, wer von euch nicht seine Schafe aus einem Graben ziehen würde, wenn sie an einem Sabbat hineinfielen? Hätte ich diese Frau ihrer Krankheit überlassen sollen? Glaubt ihr, daß das fünfte Buch Mose das befiehlt? Wenn ein Mensch das glaubt, dann ist er gottloser als der letzte Heide!«
»Du wagst es!« schrie ein Pharisäer.
»Ihr seid schnell dabei, im Namen des Gesetzes und aus der Höhe eurer Tugend zu urteilen«, fuhr Jesus fort, »aber eure Tugend ähnelt den Raben, die die Friedhöfe heimsuchen, und das Gesetz ist weder euer Eigentum, noch seid ihr seine Hüter. Wenn ihr mich nicht so schnell verurteilt hättet, hätte ich kein Urteil über euch gesprochen, aber da ihr die Frechheit besitzt, euch zu Zensoren meiner Taten aufzuschwingen, muß ich euch und allen Anwesenden sagen, daß die einzige Autorität, die ihr besitzt, die ist, die ihr euch anmaßt!«
»Rede nur, rede«, sagte ein Pharisäer. »Bald werden wir dich ins Gefängnis werfen wie deinen Freund, den tollwütigen Hund Jokanaan.«
»Jokanaan«, wiederholte Jesus. »Ihr Leute ohne Hirn, als er frei war und weder aß noch trank, sagtet ihr und euresgleichen, daß er besessen sei — er, der reinste Elias! Aber ihr bereichert euch, ihr trinkt und treibt Unzucht... Ja!« schrie er, und die Adern an seinen Schläfen traten hervor. »Ihr treibt Unzucht und behauptet, ihr verachtet die Frauen und Knaben, mit denen ihr es treibt, aber ihr habt weder Augen noch Ohren, weder Hirn noch Herz, ihr seid lebende Leichen! Und ihr wagt es, Jokanaan zu erwähnen!«
Tödliches Schweigen senkte sich nach seinem Ausbruch
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