Ein Mensch namens Jesus
sicher, ob du recht hast. Die Essener sind streng, und Jesus ist es nicht.«
»Woher glaubst du, stammt die Taufe?« erwiderte Thomas. »Es ist ein Essener-Ritus. Sie baden jeden Abend. Und Jesus ist wie sie ein Rebell.«
»Auch die Zeloten sind Rebellen.«
»Ja, aber er ist kein Zelot, wie du weißt. Er ist ein geistiger Rebell. Du siehst doch, daß er alle offiziellen Riten ablehnt. Er sucht nach dem Geist und nicht nach dem Wort. Er spricht direkt mit Gott. Er ist wie ein Prophet«, meinte Thomas. Seine Stimme hatte einen singenden Tonfall angenommen.
»Was willst du sagen mit >wie ein Prophet Ist er einer oder ist er keiner?«
»Die Propheten waren Hüter des Gesetzes«, sagte Thomas langsam. »Aber er verändert das Gesetz.«
»Also ist wahr, was die Pharisäer über ihn sagen, wenn du selber zugibst, daß er das Gesetz verändert.«
»Er verändert es, er zerstört es nicht. Die Pharisäer behaupten, daß er es zerstört.«
»Aber wenn das Gesetz von Gott gegeben ist, warum verändert er es dann?«
»Aber ist es von Gott gegeben?« murmelte Thomas. »War es immer
so?«
»Du kannst gesteinigt werden, nur weil du die Frage gestellt hast«, meinte Natanael schaudernd. »Und wenn das Gesetz der Alten nicht gottgegeben ist, was ist dann das neue Gesetz?«
»Ja«, sagte Thomas nachdenklich. »Was ist sein neues Gesetz? Ich weiß es nicht, und doch weiß ich es. Er will uns dorthin führen, wohin die Juden niemals gegangen sind.«
»Du drückst dich so unklar aus!« rief Natanael aus. »Wo führt er uns denn hin?« Um sie herum prasselte der Regen. »Jetzt wird es schwer werden, diesen Vorbau zu verlassen! Wir hätten lieber früher schlafen gehen sollen.«
»Er wird uns zu Gott führen«, sagte Thomas und kauerte sich in eine Ecke des Vorbaus. »Gott hier auf Erden.«
»Was sagst du da? Ich höre dich schlecht. Hast du gesagt: >Gott hier auf Erden Was willst du damit sagen?«
»Weiß ich alle Antworten?« rief Thomas aus. »Ich tappe im dunkeln! Ich weiß, daß am Anfang Gott oben war und die Menschen hier unten. Jetzt will Jesus, daß der fleischliche Mensch sich ganz zu Gott erhebt und daß Gott herabsteigt. Er will, daß wir alle in Gott aufgehen, anstatt Ihn als schreckliche, fremde Macht, wie die heidnischen Götter, anzusehen. Er will Erde und Himmel vereinen.«
»Das vermutest du alles nur, du Sohn eines Menschen. Hat Jesus dir diese Dinge erklärt?«
»Woher willst du wissen, daß er es nicht getan hat?«
»Warum sollte er sich nur dir anvertraut haben?«
»Vielleicht war ich besser darauf vorbereitet, ihn zu verstehen, als ihr anderen.«
»Warum?« fragte Natanael.
»Ich hatte einen guten Meister.«
»Diesen Apollonios? Was hat er gelehrt?«
»Wie man sich von der Materie zum Geist erhebt. Und daß man Worten und Riten mißtrauen soll. Und das macht Jesus, er mißtraut mechanisch hergesagten Gebeten und Riten, treibt die Händler mit der Peitsche aus dem Tempel und heilt am Sabbat.«
»Wie sollen wir Juden bleiben, wenn wir unser Gesetz verletzen?«
»Warum willst du Jude bleiben?«
»Allmächtiger Herr!« rief Natanael aus. »Sag mir lieber, warum Jesus uns heute abend verlassen hat.«
»Schmerz. Das Bedürfnis nachzudenken.«
»Ich verstehe nicht.«
»Jokanaan hätte vielleicht ein Messias sein können. Aber diese Möglichkeit fällt jetzt weg, und der einzige erreichbare Messias ist nun er, Jesus.«
»Aber er will nicht, daß man ihn Messias nennt!«
»Nicht der Messias, an den jeder denkt.«
»Welcher dann?«
»Der geistige, der Messias Israels, nicht der Aarons.«
Natanael seufzte. »Meine Füße sind naß, und das alles übersteigt meinen Verstand.«
»Zweifellos. Du hast erst angefangen zu denken. Der Messias kommt erst, wenn alles fast zu Ende ist, wenn alle Materie dem Feuer des Geistes versprochen ist...«
Natanael fragte nichts mehr.
»Die Grundfrage«, brummelte Thomas fast unhörbar, als redete er zu sich selber, »ist die Notwendigkeit eines Messias. Der Messias kommt am Ende von allem, und Jesus ist von den Essenern weggegangen, weil er nicht daran glaubt. Was muß denn dann aufhören? Was muß denn dann aufhören, Herr!«
Natanael sah ihn erstaunt an. »Du bist verrückt wie alle Thraker«, sagte er zu Thomas.
Der Regen trommelte unentwegt auf den Schlamm, bis sich in der Mitte der Straße ein Bach bildete. Dann klarte der Himmel auf, und der Wind der Dämmerung kräuselte die Pfützen. Kafarnaum schlief noch. Die Jünger waren noch nicht von ihrer
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