Ein Mensch namens Jesus
Städten sind bei uns eingegangen, denn dieser Galiläer geht in seiner Unverschämtheit so weit, in aller Öffentlichkeit zum Aufstand gegen uns aufzurufen, gegen diesen Ältestenrat höchstpersönlich und gegen jegliche etablierte religiöse Autorität!«
»Das sind ja unerhörte Neuigkeiten!« sagte Esra. »Warum haben wir nicht schon früher davon erfahren?«
»Wenn jemand in dieser Versammlung darüber Bescheid wissen müßte, dann doch du, Esra«, hielt ihm ein weiteres Mitglied, Nikodemus ben Bethyra, vor.
»Was willst du damit sagen?« fragte Esra bleich.
»Du bist doch für unsere Kundschafter zuständig, Esra«, entgegnete Nikodemus.
Esra wollte sich gerade ereifern, als Gedalja einwarf: »Unser hochverehrtes Ratsoberhaupt hat uns nur deshalb nicht feierlich in diese Vorkommnisse eingeweiht, weil er nicht ahnen konnte, daß jener Jesus einen derartigen Einfluß auf die vornehmen Mitglieder des Sanhedrin ausüben würde.« Und dann, Josef von Arimathäa zugewandt, der seinen Unwillen nicht verhehlen konnte, fuhr Gedalja fort: »Weißt du, daß er verdienstvolle Persönlichkeiten, Pharisäer, die der Synagoge von Kafarnaum angehören, als >lebende Leichen< bezeichnet hat?«
»Das war mir nicht bekannt, es überrascht mich aber, ehrlich gesagt, nicht sonderlich«, entgegnete Josef von Arimathäa. »Einige Angehörige unseres Klerus sind tatsächlich lebende Leichen.«
»Das ist eine Beleidigung!« schrie Esra.
»Du hast gar keinen Grund, so zu schreien«, wies ihn Levi ben Pinhas zurecht. »Erst vorige Woche, Esra, mußten wir beide den Fall eines Priesters untersuchen, den man auf frischer Tat bei einer Amtsverletzung ertappt hatte.«
»Levi!« drohte der Hohepriester.
»Ich habe seinen Namen ja nicht genannt, Meister.« Levi mußte ein Lächeln unterdrücken.
»Wie dem auch sei, wenn dieser Mann die Wahrheit sagt«, fuhr Nikodemus fort, »dann spricht das doch nicht dagegen, daß er möglicherweise die Schechina empfangen hat. Man muß gar nicht lange in den Büchern blättern, um auf Stellen zu stoßen, in denen die Propheten ihre Stimme gegen die korrupten Priester Jerusalems erheben.«
»Wenn ihr weiter solche Herausforderungen äußert, verlasse ich diese Versammlung«, drohte Esra.
»Ohne meine Einwilligung kannst du nicht gehen«, wies ihn Hannas zurecht.
»>Kommt, ihr Tiere des Waldes, ihr Tiere des flachen Landes...<« begann Schemaja zu zitieren. Und Nikodemus fuhr fort: »>... kommt und freßt euch satt, denn die Hüter Israels sind mit Blindheit und Unwissenheit geschlagen!<«
»Wir verfügen also nicht über die nötigen Hinweise, um nachzuprüfen, ob jenem Jesus die Schechina zuteil wurde oder nicht«, ließ sich nun Levis ben Pinhas’ schrille Stimme wieder vernehmen. »Aber wir könnten uns zumindest mit dem befassen, was wir haben und uns wie die Heilung der Kranken dafür spricht: daß die Leute ihn für den Messias halten.«
»Aber das ist doch unsinnig!« begehrte Gedalja auf. »Glaubst du denn immer noch, daß der von unserem ehrenwerten Ratsoberhaupt beschriebene Mann der Messias sein könnte?«
»Alle Schandtaten, von denen uns berichtet wurde, laufen auf einen Skandal hinaus, und dieser Jesus wäre nicht der erste, der in der Geschichte unseres Klerus mit gutem Grund einen Skandal angezettelt hat, das möchte ich bei allem Respekt doch einmal betonen«, entgegnete Levi ben Pinhas in entschiedenem Ton. »Strenggenommen ist die Frage von Josef von Arimathäa noch nicht beantwortet. Jener Mann könnte die Schechina empfangen haben und der Messias sein. Du mußt schließlich zugeben, Gedalja, daß man weder dich noch mich und auch nicht Esra oder Josef oder viele andere der hier Anwesenden für den Messias hält, trotz der Achtung, die man uns entgegenbringt. Und nun gibt es da einen Mann, den die Leute für den Messias halten. Meiner Ansicht nach ist es unsere Aufgabe, Josefs Frage jetzt ohne Umschweife und ohne gekränkte Protestrufe zu untersuchen.« Gedalja und Hannas sahen sich an.
»Sehr gut, dann laß uns die Frage also untersuchen«, entgegnete Hannas, »obwohl ich es etwas leichtsinnig finde, eine so ernste Sache ohne Vorbereitung abzuhandeln.«
Nikodemus ben Bethyra, einer der geachtetsten Schriftgelehrten im Hohen Rat, hob die Hand.
»Ich bitte um das Wort«, sagte er, ohne aufzusehen oder gar den Kopf zu heben.
»Sprich«, forderte Hannas ihn auf.
»Bevor wir abwägen, ob der Mann Jesus der Messias ist oder nicht, möchte ich an die herkömmliche
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